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eigentlichen Wissenschaft; nur hat ihr gegenüber die Bildung das
bessere Teil erwählt.
Sehr bezeichnend ist demnach für die Stufe und Art der Intelli¬
genz, welche er bezeichnen soll, der deutsche Ausdruck: Bildung. Er
s deutet an, daß es sich nicht um eine Anfüllung der Seele mit einem
Material von Kenntnissen, sondern um die Bildung d. h. Gestaltung,
und weil organische Gestaltung, auch um Belebung und innere Be¬
wegung des Geistes handelt. Das Bildende ist demnach nicht in dem
Erwerb einer beliebigen Masse von Kenntnissen zu suchen, sondern in
10 der Aneignung solchen Wissens, welches ein wahres Verständnis, eine
wirkliche Einsicht in die Dinge und Verhältnisse irgend eines Gebietes
möglich macht. Ist jede individuelle Seele auf ihrem natürlichen
Standpunkt vor aller Erziehung und Bildung einem Stück weichen
Wachses vergleichbar, in welches jede neue Erfahrung, jede Sinnen-
is anschauung oder von außen kommende Mitteilung sich als ein Bild
einprägt: so wird Bildung die Seele zu einem Organismus umschaffen,
für den jede neue Erfahrung eine Nahrung ist, welche er in sich auf¬
nimmt, organisch verarbeitet, und die nicht bloß zu seiner Erhaltung
sondern auch zur inneren Entfaltung und lebendigen Tätigkeit dient,
»o Halten wir nun zunächst diesen Begriff der Bildung als einer Art
und Stufe der Intelligenz fest, ohne an den engeren Sinn der soge¬
nannten allgemeinen Bildung zu denken, so ist aus dem Bisherigen
von selbst klar, inwiefern man davon reden kann, daß jemand in irgend
einem speziellen Fache ebenso wie gelehrt, auch bloß gebildet sein kann.
25 Es kann einer natürlich eine gewisse, etwa naturwissenschaftliche Bil¬
dung besitzen, ohne daß er eine vollständige Kenntnis der Naturwissen¬
schaft, aber auch ohne daß er eine außer derselben liegende Bildung
in anderen Gebieten besitzt; sie besteht in der gedankenmäßigen, be¬
wußten, prinzipiellen Auffassung und Anschauung eines Gebietes, wo-
so durch das Verständnis auch alles einzelnen möglich wird. Daher kann
auch von religiöser Bildung im Unterschiede von einer natürlichen,
naiven Religiosität geredet werden. Den Unterschied der politischen
Bildung von der Wissenschaft der Politik kann man nach der Analogie
leicht erkennen; der Umfang derselben kann sich in weiten Abständen
35 bewegen, und je nach der Verfassung und der historischen Epoche eines
Landes wird man bei seinen Bürgern und deren Vertretern ein sehr
verschiedenes Maß von politischer Bildung antreffen und fordern.
In diesem Sinne nun werden wir viele Menschen als in ihrer
Art und an ihrem Ort Gebildete bezeichnen; wir werden reden können
4v von einem in seiner Art gebildeten Bauern, Handwerker, ohne