Full text: Prosa für Lehrerseminare (Teil 3)

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Widerlegung triumphierend unser Dasein und Fortbestehen, das sich 
ohne alles unser Nachdenken ergab. Es ging aber nur darum, weil wir 
nicht auf die Probe gestellt wurden. Wir sind seitdem durch sie hin¬ 
durchgegangen. Seit dieser Zeit sollten doch wohl die Täuschungen, 
die Blendwerke, der falsche Trost, durch die wir alle uns gegenseitig 5 
verwirrten, zusammengestürzt sein! — Die angeborenen Vorurteile, 
welche, ohne von hier oder da auszugehen, wie ein natürlicher Nebel 
über alle sich verbreiteten und alle in dieselbe Dämmerung einhüllten, 
sollten doch wohl nun verschwunden sein? Jene Dämmerung hält nicht 
wehr unsre Augen; sie kann uns aber auch nicht ferner zur Entschul-10 
digung dienen. Jetzt stehen wir da, rein, leer, ausgezogen von allen 
fremden Hüllen und Umhängen, bloß als das, was wir selbst sind. 
Jetzt mutz es sich zeigen, was dieses Selbst ist oder nicht ist. 
Es dürfte jemand unter euch hervortreten und mich fragen: „Was 
gibt gerade dir, dem einzigen unter allen deutschen Männern und « 
Schriftstellern, den besonderen Auftrag, Beruf und das Vorrecht, 
uns zu versammeln und auf uns einzudringen? Hätte nicht jeder unter 
den Tausenden der Schriftsteller Deutschlands ebendasselbe Recht dazu 
wie du, von denen keiner es tut, sondern du allein dich hervordrängst?" 
Ich antworte, datz allerdings jeder dasselbe Recht gehabt hätte wie ich so 
und datz ich gerade darum es tue, weil keiner unter ihnen es vor mir 
getan hat; und datz ich schweigen würde, wenn ein anderer es früher 
getan hätte. Dies war der erste Schritt zu dem Ziele einer durch¬ 
greifenden Verbesserung; irgend einer mutzte ihn tun. Ich war der, 
^er es zuerst lebendig einsah; darum wurde ich der, der es zuerst tat. 25 
Es wird nach diesem irgend ein anderer Schritt der zweite sein; diesen 
3u tun haben jetzt alle dasselbe Recht; wirklich tun aber wird ihn aber¬ 
mals nur ein einzelner. Einer mutz immer der erste sein, und wer es 
fein kann, der sei es eben! 
Ohne Sorge über diesen Umstand verweilet ein wenig mit eurem 30 
Blicke bei der Betrachtung, auf die wir schon früher euch geführt haben, 
m welchem beneidenswürdigen Zustande Deutschland sein würde und 
M welchem die Welt, wenn das Erstere das Glück seiner Lage zu be¬ 
nutzen und seinen Vorteil zu erkennen gewutzt hätte. Heftet darauf euer 
^uge auf das, was beide nunmehr sind, und lasset euch durchdringen 35 
von dem Schmerz und dem Unwillen, der jeden Edlen hierbei erfassen 
Wutz. Kehret dann zurück zu euch selbst und sehet, datz ihr es seid, die 
Zeit von den Irrtümern der Vorwelt lossprechen, von deren Augen 
fw den Nebel hinwegnehmen will, wenn ihr es zulatzt; datz es euch 
verliehen ist wie keinem Geschlechte vor euch, das Geschehene 40
	        
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