Full text: Prosa für Präparandenanstalten (Teil 1, [Schülerband])

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bestimmt hast, deinen Liebling, den Menschen, zu tragen, so 
könnte mir ja wohl der Sattel anerschaffen sein, den mir der 
wohbltãtige Reiter auflegt.“ 
„Gut,“ versetzte Zeus, „gedulde dich einen Augenblickl“ 
s Zeus, mit ernstem Gesichte, sprach das Wort der Schöpfung. 
Da quoll Leben in den Staub, und plötzlich stand vor dem 
Throne — das hässliche Kamel. 
Das Pferd sah, schauderte und zittertée vor entsetzendem 
Abscheu. „Hier sind höhere und schmächtigere Beine,“ sprach 
io Zeus; „hier ist ein langer Schwanenhals, hier ist eine breitere 
Brust, hier ist der anerschaffene Sattel! Willst du, Pferd, dals 
ich dich so umbilden soll?“ 
Das Pferd zitterte noch. „Geh,“ fuhr Zeus fort; „diesmal 
sei belehrt, ohne bestraft zu werden! Dich deiner Vermessen— 
is heit aber dann und wann reuend zu erinnern, so daure du fort, 
neues Geschöpft — Zeus warf einen erhaltenden Blick auf das 
Kamel — „und das Pferd erblicke dich nie, ohne zu schaudern!“ 
37. Der Weinstocek. 
Gottfried Herder. Werke. Bd. VI. Morgenländische Literatur). Berlin (Hempel) o. J. 
Am Tage der Schöpfung rühmten die Bäume gegeneinander, 
frohlockend ein jeglicher über sich selbst. „Mich hat der Herr 
gepflanzt,“ so sprach die erhabene Zeder; „Festigkeit und Wohl- 
geruch, Dauer und Stärke hat er in mir vereint.“ „Jehovahs Huld 
5hat mich zum Segen gesetzt,“ so sprach der umschattende Palm- 
baum; „Nutzen und Schönheit hat er in mir vermählt.“ Der 
Apfelbaum sprach: „Wie ein Bräutigam unter den Jünglingen 
prange ich unter den Bäumen des Paradieses.“ Und die Myrte 
sprach: „Wie unter den Dornen die Rose, stehe ich unter meinen 
io Geschwistern, dem niedrigen Gesträuch.“ So rühmten alle, der 
O1. und Feigenbaum, selbst die Fichte und Tanne rühmten sich. 
Der einzige Weinstock schwieg und sank zu Boden. „Nir,“ 
sprach er zu sich selbst, „Scheint alles versagt zu sein, Stamm 
und Iste, Blũüten und Frucht; aber so, wie ich bin, will ich noch 
i5 hoffen und warten.“ Er sank danieder, und seine Zweige weinten. 
Nicht lange wartete und weinte er; siehel da trat die Gott- 
heit der Erde, der freundliche Mensch, zu ihm. Er sah ein 
schwaches Gewächs, ein Spiel der Lüfte, das unter sich sank 
und Hilfe begehrte. Mitleidig richtete er's auf und schlang den
	        
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