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III. Fabeln.
2\. Der Alarder und die Tauben.
August G o t t l i e b Meißner. Skizzen. 4. Sammlung Tübingen.
Ein Marder hatte sich in einem Falleisen gefangen, litt die ent¬
setzlichsten Schmerzen und litt noch mehr durch die Furcht eines nahen,
gewissen Todes.
Eine junge Taube sah dies, flog zu ihrer Mutter und rief:
„Freude, Freude! Unser Todfeind ist seinem Untergange nahe. Komm,
laß uns seine Qual noch durch unseren Spott vermehren."
„Schäme dich!" strafte sie die Alte: „Spott über einen Unglück¬
lichen, selbst wenn es unser Todfeind sein sollte, verrät ein Herz, das
eines gleichen Unfalls würdig wäre."
22. Der Hamster und die Ameise.
Gott ho ld Ep hr a i m L essin g. Sämtl. Schriften. Herausg. v. Lachmann. 1. Band. Leipzig.
„Ihr armseligen Ameisen," sagte ein Hamster. „Verlohnt es sich
der Mühe, daß ihr den ganzen Sommer arbeitet, um ein so weniges
einzusammeln? Wenn ihr meinen Vorrat sehen solltet!"-
„Höre," antwortete eine Ameise, „wenn er größer ist, als du
ihn brauchst, so ist es schon recht, daß die Menschen dir nachgraben,
deine Scheuern ausleeren und dich deinen räuberischen Geiz mit dem
Leben büßen lassen!"
23. Der Wolf und der Schäfer.
Gotthold Evhraim Lessing. Sämtl. Schriften. Herausg. v. Lachmann. 1. Band. Leipzig.
Ein Schäfer hatte durch eine grausame Seuche seine ganze Herde
verloren. Das erfuhr der Wolf und kam, seine Kondolenz abzustatten.
„Schäfer," sprach er, „ist es wahr, daß dich ein so grausames
Unglück betroffen? Du bist um deine ganze Herde gekommen? Die
liebe, fromme, fette Herde! Du dauerst mich, und ich möchte blutige
Thränen weinen."
„Habe Dank, Meister Isegrim," versetzte der Schäfer. „Ich
sehe, du hast ein sehr niitleidiges Herz."
„Das hat er auch wirklich," fügte des Schäfers Hylax hinzu,
„so oft er unter dem Unglücke seines Nächsten selbst leidet."