Full text: [Teil 2, [Schülerband]] (Teil 2, [Schülerband])

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lichen Menschen jenes herzzerreißende Heimweh. Ohne diese sie be¬ 
gleitende Poesie müßten edle Völker vertrauern und vergehen; Sprache, 
Sitte und Gewohnheit würden ihnen eitel und unbedeckt dünken, ja 
hinter allem, was sie besäßen, würde eine gewisse Einfriedigung fehlen. 
Auf solche Weise verstehen wir das Wesen und die Tugend der deutschen 
Volkssage, welche Angst und Warnung vor dem Bösen und Freude an 
dem Guten mit gleichen Händen austeilt. Noch geht sie an Örter 
und Stellen, die unsere Geschichte längst nicht mehr erreichen kann, 
vielmehr aber fließen sie beide zusammen und untereinander; nur daß 
man zuweilen die an sich untrennbar gewordene Sage wie in Strömen 
das aufgenommene grünere Wasser eines andern Flusses noch lange 
zu erkennen vermag. 
2. Das Wesen des Liedes. 
Joh. Gottfr. Herder. 
Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde; seine Voll¬ 
kommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, 
den man mit dem alten, treffenden Ausdruck Weise nennen könnte. 
Fehlt diese einem Liede — habe es Bild und Bilder und Zusammen¬ 
setzung und Niedlichkeit der Farben, soviel es wolle — es ist kein Lied 
mehr. Oder wird jene Modulation durch irgend etwas zerstört, bringt 
ein ftemder Verbesserer hier eine Parenthese von malerischer Kompo¬ 
sition, dort eine niedliche Farbe von Beiwort hinein, bei der wir den 
Augenblick aus dem Ton des Sängers, aus der Melodie des Gesanges 
hinaus sind und ein schönes, aber hartes und nahrungsloses Farben¬ 
korn kauen: hinweg Gesang, hinweg Lied und Freude! Ist gegen- 
teils in einem Liede Weise da, wohlangeklungene und wohlgehaltene, 
lyrische Weise: wäre der Inhalt selbst auch nicht vom Belang, das 
Lied bleibt und wird gesungen. Über kurz oder lang wird statt des 
schlechtern ein besserer Inhalt genommen und darauf gebaut werden; 
nur die Seele des Liedes, poetische Tonart, Melodie ist geblieben. 
Hätte ein Lied von guter Weise einzelne merkliche Fehler, die Fehler 
verlieren sich, die schlechten Strophen werden nicht mitgesungen; aber 
der Geist des Liedes, der allein in die Seele wirkt und Gemüter zum 
Chor regt,' dieser Geist ist unsterblich und wirkt weiter. Lied muß 
gehört werden, nicht gesehen, gehört mit dem Ohr der Seele, 
das nicht einzelne Silben allein zählt und mißt und wägt, sondern 
auf Fortklang horcht und in ihm fortschwimmt. 
3. Aus Uhlands Leben. 
Aus »Aus dem Leben deutscher Dichter"' v. Karl Carstensen. 
„Meinst du, daß ich nichts anderes zu tun habe, als dein Ge- 
versel zu lesen?" sagte halb scherzend halb ärgerlich ein Lehrer in 
I. Lang, Lesebuch f. Lehrerbildungsanstalten. 2.Teil. 25
	        
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