Full text: Von Vulfila bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (Hälfte 1, [Schülerband])

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gegen einen Philosophen so in den Tag hinein schwatzen kann; wie man sich das Ansehen 
geben kann, ihn zu verstehen, indem man ihn Dinge sagen läßt, an die er niemals gedacht 
hat. Das gänzlich unverschuldete Unglück eines rechtschaffenen Mannes, sagt Aristoteles, 
ist kein Stoff für das Trauerspiel; denn es ist gräßlich. Aus diesem Denn, aus dieser 
Ursache macht Corneille ein Insofern, eine bloße Bedingung, unter welcher es tragisch zu 
sein aufhört. Aristoteles sagt: es ist durchaus gräßlich und eben daher untragisch. Corneille 
aber sagt: es ist untragisch, insofern es gräßlich ist. Dieses Gräßliche findet Aristoteles in 
dieser Art des Unglückes selbst, Corneille aber setzt es in den Unwillen, den es gegen den 
Urheber desselben verursacht. Er sieht nicht oder will nicht sehen, daß jenes Gräßliche 
ganz etwas anders ist als dieser Unwille; daß, wenn auch dieser ganz wegfällt, jenes doch 
noch in seinem vollen Maße vorhanden sein kann: genug, daß vors erste mit diesem quid 
pro quo verschiedene von seinen Stücken gerechtfertiget scheinen, die er so wenig wider 
die Regeln des Aristoteles will gemacht haben, daß er vielmehr vermessen genug ist, sich 
einzubilden, es habe dem Aristoteles bloß an dergleichen Stücken gefehlt, um seine Lehre 
danach näher einzuschränken und verschiedene Manieren daraus zu abstrahieren, wie demun- 
geachtet das Unglück des ganz rechtschaffenen Mannes ein tragischer Gegenstand werden 
könne. . . 
5. Auch gegen das, was Aristoteles von der Unschicklichkeit eines ganz Lasterhaften zum 
tragischen Helden sagt, als dessen Unglück weder Mitleid noch Furcht erregen könne, bringt 
Corneille seine Läuterungen bei. Mitleid zwar, gesteht er zu, könne er nicht erregen, aber 
Furcht allerdings. .. 
Dies gründe sich auf Corneilles falschen Begriff von der Furcht und von der Reinigung der in 
der Tragödie zu erweckenden Leidenschaften. Er, Lessing, habe schon gezeigt, daß die Erregung des Mit¬ 
leids von der Erregung der Furcht unzertrennlich sei. Das könne ein Bösewicht nie. Aristoteles wolle 
einen Helden aus der mittleren Gattung haben oder, falls man einen solchen nicht zu wählen vermöge, 
eher einen bessern als einen schlimmern. 
. . Ein Mensch kann sehr gut sein und doch mehr als eine Schwachheit haben, mehr 
als einen Fehler begehen, wodurch er sich in unabsehliches Unglück stürzet, das uns mit 
Mitleid und Wehmut erfüllet, ohne im geringsten gräßlich zu sein, weil es die natürliche 
Folge seines Fehlers ist. .. 
Dreiundachtzigstes Stück. 
Den 16. Februar 1768. 
6. Und endlich, die Mißdeutung der ersten und wesentlichsten Eigenschaft, welche 
Aristoteles für die Sitten der tragischen Personen fordert! Sie sollen gut sein, die Sitten. — 
Gut? sagt Corneille. „Wenn gut hier soviel als tugendhaft heißen soll, so wird es mit den 
meisten alten und neuen Tragödien übel aussehen, in welchen schlechte und lasterhafte, wenigstens 
mit einer Schwachheit, die nächst der Tugend so recht nicht bestehen kann, behaftete Personen 
genug vorkommen." Besonders ist ihnr für seine Kleopatra in der Rodogune bange. Die 
Güte, welche Aristoteles fordert, will er also durchaus für keine moralische Güte gelten lassen; 
es muß eine andere Art von Güte sein, die sich mit dem moralisch Bösen ebensowohl 
verträgt als mit dem moralisch Guten. Gleichwohl meinet Aristoteles schlechterdings eine 
moralische Güte, nur daß ihm tugendhafte Personen und Personen, welche in gewissen 
Umständen tugendhafte Sitten zeigen, nicht einerlei sind. Kurz, Corneille verbindet eine 
ganz falsche Idee mit dem Worte Sitten, und was die Proäresis ist, durch welche allein 
nach unserm Weltweisen freie Handlungen zu guten oder bösen Sitten werden, hat er gar 
nicht verstanden. Ich kann mich jetzt nicht in einen weitläuftigen Bericht einlassen; er läßt
	        
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