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gegen einen Philosophen so in den Tag hinein schwatzen kann; wie man sich das Ansehen
geben kann, ihn zu verstehen, indem man ihn Dinge sagen läßt, an die er niemals gedacht
hat. Das gänzlich unverschuldete Unglück eines rechtschaffenen Mannes, sagt Aristoteles,
ist kein Stoff für das Trauerspiel; denn es ist gräßlich. Aus diesem Denn, aus dieser
Ursache macht Corneille ein Insofern, eine bloße Bedingung, unter welcher es tragisch zu
sein aufhört. Aristoteles sagt: es ist durchaus gräßlich und eben daher untragisch. Corneille
aber sagt: es ist untragisch, insofern es gräßlich ist. Dieses Gräßliche findet Aristoteles in
dieser Art des Unglückes selbst, Corneille aber setzt es in den Unwillen, den es gegen den
Urheber desselben verursacht. Er sieht nicht oder will nicht sehen, daß jenes Gräßliche
ganz etwas anders ist als dieser Unwille; daß, wenn auch dieser ganz wegfällt, jenes doch
noch in seinem vollen Maße vorhanden sein kann: genug, daß vors erste mit diesem quid
pro quo verschiedene von seinen Stücken gerechtfertiget scheinen, die er so wenig wider
die Regeln des Aristoteles will gemacht haben, daß er vielmehr vermessen genug ist, sich
einzubilden, es habe dem Aristoteles bloß an dergleichen Stücken gefehlt, um seine Lehre
danach näher einzuschränken und verschiedene Manieren daraus zu abstrahieren, wie demun-
geachtet das Unglück des ganz rechtschaffenen Mannes ein tragischer Gegenstand werden
könne. . .
5. Auch gegen das, was Aristoteles von der Unschicklichkeit eines ganz Lasterhaften zum
tragischen Helden sagt, als dessen Unglück weder Mitleid noch Furcht erregen könne, bringt
Corneille seine Läuterungen bei. Mitleid zwar, gesteht er zu, könne er nicht erregen, aber
Furcht allerdings. ..
Dies gründe sich auf Corneilles falschen Begriff von der Furcht und von der Reinigung der in
der Tragödie zu erweckenden Leidenschaften. Er, Lessing, habe schon gezeigt, daß die Erregung des Mit¬
leids von der Erregung der Furcht unzertrennlich sei. Das könne ein Bösewicht nie. Aristoteles wolle
einen Helden aus der mittleren Gattung haben oder, falls man einen solchen nicht zu wählen vermöge,
eher einen bessern als einen schlimmern.
. . Ein Mensch kann sehr gut sein und doch mehr als eine Schwachheit haben, mehr
als einen Fehler begehen, wodurch er sich in unabsehliches Unglück stürzet, das uns mit
Mitleid und Wehmut erfüllet, ohne im geringsten gräßlich zu sein, weil es die natürliche
Folge seines Fehlers ist. ..
Dreiundachtzigstes Stück.
Den 16. Februar 1768.
6. Und endlich, die Mißdeutung der ersten und wesentlichsten Eigenschaft, welche
Aristoteles für die Sitten der tragischen Personen fordert! Sie sollen gut sein, die Sitten. —
Gut? sagt Corneille. „Wenn gut hier soviel als tugendhaft heißen soll, so wird es mit den
meisten alten und neuen Tragödien übel aussehen, in welchen schlechte und lasterhafte, wenigstens
mit einer Schwachheit, die nächst der Tugend so recht nicht bestehen kann, behaftete Personen
genug vorkommen." Besonders ist ihnr für seine Kleopatra in der Rodogune bange. Die
Güte, welche Aristoteles fordert, will er also durchaus für keine moralische Güte gelten lassen;
es muß eine andere Art von Güte sein, die sich mit dem moralisch Bösen ebensowohl
verträgt als mit dem moralisch Guten. Gleichwohl meinet Aristoteles schlechterdings eine
moralische Güte, nur daß ihm tugendhafte Personen und Personen, welche in gewissen
Umständen tugendhafte Sitten zeigen, nicht einerlei sind. Kurz, Corneille verbindet eine
ganz falsche Idee mit dem Worte Sitten, und was die Proäresis ist, durch welche allein
nach unserm Weltweisen freie Handlungen zu guten oder bösen Sitten werden, hat er gar
nicht verstanden. Ich kann mich jetzt nicht in einen weitläuftigen Bericht einlassen; er läßt