Full text: Von Vulfila bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (Hälfte 1, [Schülerband])

255 
zu führen weiß, so auch der Dichter. Ich habe es wenigstens versucht, was er bewerkstel¬ 
ligen muß, und kann von dem, was ich selbst nicht zu machen vermag, doch urteilen, ob 
es sich machen läßt. Ich verlange auch nur eine Stimme unter uns, wo so mancher sich 
eine anmaßt, der, wenn er nicht dem oder jenem Ausländer nachplaudern gelernt hätte, 
stummer sein würde als ein Fisch. 
Aber man kann studieren und sich tief in den Irrtum hineinstudieren. Was mich 
also versichert, daß mir dergleichen nicht begegnet sei, daß ich das Wesen der dramatischen 
Dichtkunst nicht verkenne, ist dieses, daß ich es vollkommen so erkenne, wie es Aristoteles 
aus den unzähligen Meisterstücken der griechischen Bühne abstrahieret hat. Ich habe von 
dem Entstehen, von der Grundlage der Dichtkunst dieses Philosophen meine eigene Ge¬ 
danken, die ich hier ohne Weitläuftigkeit nicht äußern könnte. Indes steh ich nicht an zu be¬ 
kennen, (und sollte ich in diesen erleuchteten Zeiten auch darüber ausgelacht werden!) daß ich 
sie für ein ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer sind. 
Ihre Grundsätze sind ebenso wahr und gewiß, nur freilich nicht so faßlich und daher mehr 
der Schikane ausgesetzt als alles, was diese enthalten. Besonders getraue ich mir von der 
Tragödie, als über die uns die Zeit so ziemlich alles daraus gönnen wollen, unwider- 
sprechlich zu beweisen, daß sie sich von der Richtschnur des Aristoteles keinen Schritt ent¬ 
fernen kann, ohne sich ebenso weit von ihrer Vollkommenheit zu entfernen. 
Nach dieser Überzeugung nahm ich mir vor, einige der berühmtesten Muster der fran¬ 
zösischen Bühne ausführlich zu beurteilen. Denn diese Bühne soll ganz nach den Regeln 
des Aristoteles gebildet sein; und besonders hat man uns Deutsche bereden wollen, daß sie 
nur durch diese Regeln die Stufe der Vollkommenheit erreicht habe, auf welcher sie die 
Bühnen aller neuern Völker so weit unter sich erblicke. Wir haben das auch lange so 
fest geglaubt, daß bei unsern Dichtern den Franzosen nachahmen ebensoviel gewesen ist, 
als nach den Regeln der Alten arbeiten. 
Indes konnte das Vorurteil nicht ewig gegen unser Gefühl bestehen. Dieses ward 
glücklicherweise durch einige englische Stücke aus seinem Schlummer erwecket, und wir machten 
endlich die Erfahrung, daß die Tragödie noch einer ganz andern Wirkung fähig sei, als 
ihr Corneille und Racine zu erteilen vermocht. Aber geblendet von diesem plötzlichen 
Strahle der Wahrheit, prallten wir gegen den Rand eines andern Abgrundes zurück. Den 
englischen Stücken fehlten zu augenscheinlich gewisse Regeln, mit welchen uns die fran¬ 
zösischen so bekannt gemacht hatten. Was schloß man daraus? Dieses, daß sich auch ohne 
diese Regeln der Zweck der Tragödie erreichen lasse, ja, daß diese Regeln wohl gar schuld 
sein könnten, wenn man ihn weniger erreiche. 
Und das hätte noch hingehen mögen! — Aber mit diesen Regeln fing man an, alle 
Regeln zu vermengen und es überhaupt für Pedanterei zu erklären, dem Genie vorzuschreiben, 
was es tun und was es nicht tun müsse. Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle 
Erfahrungen der vergangenen Zeit mutwillig zu verscherzen und von den Dichtern lieber 
zu verlangen, daß jeder die Kunst aufs neue für sich erfinden solle. 
Ich wäre eitel genug, mir einiges Verdienst um unser Theater beizumessen, wenn ich 
glauben dürfte, das einzige Mittel getroffen zu haben, diese Gärung des Geschmacks zu 
hemmen. Darauf los gearbeitet zu haben, darf ich mir wenigstens schmeicheln, indem ich 
mir nichts angelegner sein lassen, als den Wahn von der Regelmäßigkeit der französischen 
Bühne zu bestreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln des alten Drama mehr ver¬ 
kannt als die Franzosen. Einige beiläufige Bemerkungen, die sie über die schicklichste äußere 
Einrichtung des Drama bei dem Aristoteles fanden, haben sie für das Wesentliche ange¬ 
nommen und das Wesentliche durch allerlei Einschränkungen und Deutungen dafür so ent-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.