134. Vom Hirschkäfer.
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134. Vom Hirschkäfer.
Nach H. Wagner.
Vor sechs Jahren legte das Hirschkäferweibchen ein Ei in das Ast—
loch der alten Eiche. Aus diesem Ei schlüpfte ein weißes Würmchen,
eine Käferlarve. Es verzehrte faules Eichenholz und wurde lang und
dick davon. Tag und Nacht steckte es mitten im Baume, sah nie—
mals Sonne oder Mond, merkte überhaupt nicht, daß außer ihm noch
ein lebendes Wesen auf der Welt sei. Hätte es ein Naturgeschichtsbuch
schreiben können, so würde dies kurz gelautet haben: „Die ganze Welt
besteht aus faulem Eichenholz, in welchem ein schöner Holzwurm wohnt,
— sonst weiter niemand.“ — Nachdem die Käferlarve sich fünf Jahre
lang durch den alten Eichenstamm durchgefressen hatte, war sie in der
Nähe der Wurzeln angekommen. Es schmeckte ihr jetzt kein Bissen mehr;
sie war müde und wollte schlafen. Sie klebte Spänchen von mürbem
Holze und Erdkrümchen zusammen und baute sich daraus ein Haus, so
groß wie eine Faust und so rund wie ein Hühnerei. Hierin schlief der
Käferwurm ein und ward zu einer Puppe; er schlief sogar das ganze
Frühjahr hindurch bis zum Sommer. Im Juni, als die Rosen blühten,
wachte er auf und kroch ins Freie.
Aber wie sah er jetzt aus! Er war zu einem stattlichen Hirschkäfer
geworden, gepanzert mit einem dunkelbraunen Harnisch und bewehrt mit
zwei großen, zackigen Kneifzangen, die beinahe so lang waren wie der
ganze übrige Körper, und die fast so aussahen wie das Geweih eines
Hirsches Das faule Holz wollte dem Küfer nicht mehr behagen. Er
stolzierte am Waldboden über das weiche Moos und über das dürre
Laub dahin wie ein streitbarer Ritter. Jetzt entdeckte er ein Erdbeer—
stöckchen, eroberte es und schmauste von den süßen Früchten.
Am Abend machte der Hirschkäfer einen Ausflug hoch hinauf bis
zum Wipfel der alten Eiche. Er hob die Flügeldecken, breitete die
feinen Hautflügel aus und schwirrte empor, höher und höher. Dabei
hielt er sich straff aufrecht und summte so laut und tief dazu, als würde
auf dem Brummbasse zum Tanze aufgespielt. Fledermäuse, Nacht—
schwalben und Waldkäuzchen, die in der Dämmerung zum Käferfange
ausflogen, hörten das Summen und vermeinten, einen fetten Bissen zu
erhaschen. Sie kamen herzu und sahen den Schröter. Dieser aber hielt
ihnen drohend die Hörner entgegen. Die Feinde prallten erschrocken
zurück, und der Käfer kam unbeschadet auf der Eiche an
Hier fand er fröhliche Gesellschaft. Beim Eichensaft, der aus der
geborstenen Rinde quoll, hatten sich gar viele Kameraden versammelt
zum nächtlichen Sommerfeste.