Full text: Deutsches Lesebuch für Lehrer- und Lehrerinnen-Seminarien

79 
auf den straffgespannten Fuß!' Dazu nehmen man die Farbenpracht und 
die zarte Zeichnung des Gefieders, womit die Natur ihre Lieblinge so 
reich geschmückt hat, die bunten Decken, Bänder und Streifen* die 
schillernden Flecken, Perlen, Augen und Ringe, das metallische Schimmern 
und Spielen von Blau und Grün und Rot, die leuchtende, reine Frische 
ihres Weiß und Schwarz! Ist doch selbst das Grau der Krähe mehr als 
jene stumpfe, farblose Auflösung aller Farben, welche wir sonst wohl mit 
diesem Namen benennen-. 
Was uns aber am meisten an den Vögeln anzieht und wodurch sie 
gleichsam über den Kreis des gewöhnlichen Lebens hinausgehoben werden, 
ist das Vermögen des Fliegens. Durch den Flug vorzüglich erscheint der 
Vogel dem Naturmenschen dämonisch. Die «glücklichen», ruft der Dichter, 
«die glücklichen Vögel 
Wohnen und spielen vergnügt in der ewigen Halle des Vaters. 
Raums genug ist für alle; der Pfad ist keinem bezeichnet, 
Und es regen sich frei im Hause die großen und kleinem 
Über dem Haupte frohlocken sie mir, und es sehnt sich auch mein Herz 
Wunderbar zu Urnen hinauf.» (Hölderlin.) 
Aber welch eine Fülle freiester und schönster Bewegungen entfaltet sich 
hier auch! Dieses majestätische Kreisen und Schwimmen, dieses selige 
Schwanken und Schweben, dieses Huschen und Flattern, dieses Schießen, 
Sinken und Steigen 
«jetzt, wo drunten der Waldstrom braust,. Jetzo mit einem Mal 
Jetzt, wo oben die Wolke saust, Nieder von Berg zu Tal:» 
(Deinhardste.in;) 
fürwahr, es ist, als tummelten sich die Geister der Luft in Spiel und Reigen, 
und es gehört kaum weniger als die groteske Sprachgewalt, eines Fischart 
dazu, dies ganze heißblütige Leben mit seiner Leidenschaft und Lust, 
seiner Neugier und Furcht, seiner Kühnheit und List in menschlicher 
Rede wiederspiegeln zu lassen. 
Ich übergehe die Wanderzüge, die Kämpfe und die anderen be¬ 
wundernswürdigen Triebe der Vögel, um nur noch ihres Gesanges zu ge¬ 
denken. Freilich ist wohl nicht allen die Gabe der Stimme geliehen; von 
einem Gesänge kann sogar nur bei wenigen geredet werden; aber doch 
stehen sie auch hierdurch, ja hierdurch mehr noch als durch ihren Flug 
über allen anderen Tieren. 
Der Gesang ist' des Vogels Geheimnis und Wesen, und in alten 
Zeiten verstanden die Menschen diese Klänge, die ihnen oft ihr eigenes 
Schicksal kündeten, und in denen sie bald ermunternden Zuruf zur Tat, 
bald drohende Warnung vor nahem Unheil vernahmen. Ohne die stimm¬ 
begabte Kehle mögen wir uns die Wildlinge des Äthers kaum denken. 
Der stumme Vogel steht gleichsam außer der Natur; er ist immer eine 
einsame, oft eine düstere Erscheinung. Die Abstufungen aber, denen wir 
hier begegnen, sind geradezu unendlich. Welche Welt von Tönen liegt 
zwischen dem Gekrächze des-Raben und dem Schlage der Nachtigall! Wie 
furchtbar gellt das Jauchzen dos beutemachenden Seeadlers* wie lockend ruft' 
das Taubengirren durch den Ferst, wie komisch welscht der stolzierende 
Truthahn, wie rührend zwitschert die nestbehütende Schwalbe! Und 
wiederum, wie außerordentlich mannigfaltig sind die Accente einer einzigen 
Vogelstimme! Jetzt geschwätzig schnell, jetzt sanft und langgezogen, jetzt 
rauschend, jetzt spitz und abgebrochen, nun tiefgedämpft, nun schrill und
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.