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Lunte, die aus der Hand des wackern Hauptmanns zwischen die Patronen
gefallen war, hatte nicht eher gezündet, als bis die Granaten mit einem
Deutschen zehn Franzosen und noch mehr niederschmettern konnten.
Als wir eine halbe Stunde darauf an der eroberten Schanze vorüber¬
zogen, war es darin schwarz wie in der Schmelzhütte von Bleiberg und
so leer wie vorhin, als Sie, meine Herren, daran vorbeigegangen sind.
Nur die Läufe der Kanonen blieben liegen; die verbrannten Leichname
hatte es bis auf die Straße herübergeworfen.»
«Nun, und der Judas? der Verräter?» fragte der Erzähler den Fuhr¬
mann, welcher aufstand und damit zu erkennen gab, daß seine Geschichte
von der Klause und von der Schanze aus sei.
«Der,» antwortete der Gefragte, «ist mit den Franzosen weiter ge¬
zogen, man weiß nicht wohin. In dem Kärnthner Lande hat er sich nicht
mehr blicken lassen. Es wird bei ihm wie bei Kain geheißen haben:
Die Stimme von deiner Brüder Blut schreiet zu mir von der Erde. Unstät
und flüchtig sollst du sein auf Erden.»
99. Mignon.
Von W. v. Goethe (1749-1832).
1. Kennst du das Land, nio die Zitronen
^ . blühn, _ v -
Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
Dahin! Tahin
Möcht' ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!
2. Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht
sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan!
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht' ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn!
1. Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg;
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut;
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut.
Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
Geht unser Weg! o Vater, last uns ziehn!
100. Das Chamonixtal.
Von W. v. Goethe (1749—1832).
Wir ließen Salenche in einem schönen, offnen Tale hinter uns.
Der Himmel hatte sich während unsrer Mittagrast mit weißen Schäfchen
Überzogen, von denen ich hier eine besondere Anmerkung machen muß.
Wir haben sie so schön und noch schöner an einem heitern Tage von
den Berner Eisbergen aufsteigen sehen. Auch hier schien es uns wieder
so, als wenn die Sonne die leisesten Ausdünstungen von den höchsten
Schneegebirgen gegen sich aufzöge und diese ganz feinen Dünste von
einer leichten Luft wie eine Schaumwolle durch die Atmosphäre gekämmt
"würden. Ich erinnere mich nie, in den höchsten Sommertagen bei uns,
"wo dergleichen Lufterscheinungen auch vorkommen, etwas so Durch¬
sichtiges, Lichtgewobenes gesehen zu haben. Schon sahen wir die Schnee¬
gebirge, von denen sie aufstiegen, vor uns; das Tal fing an zu stocken;
die Arve schoß aus einer Felsenkluft hervor; wir mußten einen Berg