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hinan und wanden uns, die Schneegebirge rechts vor uns, immer höher.
Abwechselnde Berge, alte Fichtenwälder zeigten sich uns rechts, teils in
der Tiefe, teils in gleicher Höhe mit uns. Links über uns waren die
Gipfel des Berges kahl und spitzig. Wir fühlten, daß wir einem stärkeren
und mächtigeren Satz von Bergen immer näherrückten. Wir kamen über
ein breites, trocknes Bett von Kieseln und Steinen, das die Wasserfluten
die Länge des Berges hinab zerreißen und wieder füllen; von da in ein
sehr angenehmes, rund geschlossenes, flaches Tal, worin das Dörfchen
Serves liegt. Von da geht der Weg um einige sehr bunte Felsen wieder
gegen die Arve. Wenn man über sie weg ist, steigt man einen Berg
hinan. Die Massen werden hier immer größer; die Natur hat hier mit
sachter Hand das Ungeheuere zu bereiten angefangen. Es wurde dunkler;
wir kamen dem Tale Chamonix näher und endlich hinein. Nur die
großen Massen waren uns sichtbar. Die Sterne gingen nacheinander auf,
und wir bemerkten über den Gipfeln der Berge rechts vor uns ein Licht,
das wir nicht erklären konnten. Hell, ohne Glanz wie die Milchstraße,
doch dichter, fast wie die Plejaden, nur größer, unterhielt es lange unsere
Aufmerksamkeit, bis es endlich, da wir unsern Standpunkt änderten, wie
eine Pyramide von einem innern, geheimnisvollen Lichte durchzogen, das
dem Schein eines Johanniswurms am besten verglichen werden kann, über
den Gipfel aller Berge hervorragte und uns gewiß machte, daß es der
Gipfel des Montblanc war. Es war die Schönheit dieses Anblicks ganz
außerordentlich; denn da er mit den Sternen, die um ihn herumstanden,
zwar nicht in gleichraschem Licht, doch in einer breiteren, zusammen¬
hängenderen -Masse leuchtete, so schien er den Augen zu einer hohem
Sphäre zu gehören, und man hatte Mühe, in Gedanken seine Wurzeln
wieder an die Erde zu befestigen. Vor ihm sahen wir eine Reihe von
Schneegebirgen dämmernd auf den Rücken von schwarzen Fichtenbergen
liegen und ungeheure Gletscher zwischen den schwarzen Wäldern herunter
ins Tal steigen.
Wir sind hier in dem mittelsten Dorfe des Tals, le Prieuré genannt,
wohl logieret in einem Hause, das eine Witwe den vielen Fremden zu
Ehren vor einigen Jahren erbauen ließ. Wir sitzen am Kamin und lassen
uns den Muskatellerwein aus der Vallée d'Aoste besser schmecken als die
Fastenspeisen, die uns aufgetischt wurden. —
Das Tal Chamonix, in dem wir uns befinden, liegt sehr hoch* in
den Gebirgen, ist etwa sechs bis sieben Stunden lang und geht ziemlich
von Mittag gegen Mitternacht. Der Charakter, der mir es vor andern aus¬
zeichnet, ist, daß es in seiner Mitte fast gar keine Fläche hat, sondern
das Erdreich wie eine Mulde sich gleich von der Arve aus gegen die
höchsten Gebirge anschmiegt. Der Montblanc und die Gebirge, die von
ihm herabsteigen, machen die östliche Wand aus, an der die ganze Länge
des Tals hin sieben Gletscher, einer größer als der andere, herunter¬
kommen. Unsere Führer, die wir gedungen hatten, das Eismeer zu sehen,
kamen beizeiten. Der eine ist ein rüstiger, junger Bursche, der andere
ein schon älterer und sich klug dünkender, der mit allen gelehrten
Fremden Verkehr gehabt hat, von der Beschaffenheit der Eisberge sehr
wohl unterrichtet und ein sehr tüchtiger Mann. Er versicherte uns, daß
seit acht und zwanzig Jahren — so lange führe er Fremde auf die Ge¬
birge — er zum erstenmal so spät im Jahr (5. November) nach Aller¬
heiligen jemand hinauf bringe, und doch sollten wir alles e|)en so gut
wie im August sehen. Wir stiegen, mit Speise und Wein gerüstet, den