Full text: Deutsches Lesebuch für Lehrer- und Lehrerinnen-Seminarien

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Freundlichkeit seines Wesens, die Wahrhaftigkeit seines Charakters. Freundliche 
Menschenliebe beseelte ihn allezeit; niemand sah ihn unfreundlich oder ungeduldig 
gegen seine Diener; stets hatte er ein Wort der Entschuldigung für ihre Fehler und 
Versehen; dabei besaß er Freude am Belohnen und an dem Glücke der Belohnten. 
Harte Urteile über Menschen fällte er nie, wenn er auch mit dem Worte der Mahnung 
nicht zurückhielt, wo es nötig war. An der Demütigung seines Feindes hatte er 
keine Freude; stets ließ er ihm Gerechtigkeit widerfahren. „Berichten Sie nichts, 
was den Feind erniedrigen könnte," äußerte er dem Geheimen Hofrat Schneider 
gegenüber nach der Schlacht bei Königgrätz. Seinen Gegnern verzieh er gerne, wie 
er am 31. Dezember 1866 in seinem letzten Willen die Worte aufnahm: „Ich ver¬ 
gebe allen, die wissentlich und unwiffentlich sich meinen auf Gewissensüberzeugung 
begründeten Absichten entgegensetzten." Unerschütterliches Wohlwollen, Güte und 
Milde leuchteten aus den treuen Augen Kaiser Wilhelms seinem Volke entgegen. 
Dankbarkeit war ein Grundzug seines Wesens; er war dankbar gegen seinen Gott; 
aber willig dankte er auch dem Volke für seine Vaterlandsliebe, dem Heere für seine 
im Schlachtenunwetter bewiesenen Tugenden, den erprobten Dienern und Beratern 
für ihre Treue im Dienste des Gemeinwohls. Immer inniger und fester war das 
Band geworden, das ihn mit einem Bismarck und einem Moltke einte; sein 
„Niemals", das er dem ersteren auf sein Abschiedsgesuch zurief, kam aus der innersten 
Brust. Als der frühere Kriegsminister von Roon, sein treuer Helfer im Streite 
um die Heeresorganisation, im Sterben lag, machte sich der selbst leidende Kaiser 
' auf, um Abschied von dem Wackeren zu nehmen. Mit seinem Kommen warf er 
auf das Sterbelager des hochverdienten Mannes den letzten Sonnenglanz dieses 
irdischen Daseins. Es lag etwas Sonniges, die Menschen Erwärmendes in der 
ganzen Persönlichkeit Kaiser Wilhelms, das jeden an ihn fesselte, auf dem einmal ein 
Blick seiner Augen geruht hatte. 
Und doch bei aller Milde und Güte welche Charakterstärke in diesem Herrscher! 
Schmerzbewegte Tage, schlaflose Nächte bringt ihm der Streit mit der Volksvertretung, 
die sich mehrende Entfremdung des Volkes, das künstlich noch mehr und mehr durch 
eine übelwollende Presse erregt wird; und doch nicht eine Linie weicht er von dem 
Wege ab, der seiner innersten Überzeugung nach allein dem Wohle des Ganzen dienen 
kann. Sein Charakter war zu gefestigt, als daß er schmerzlicher Gefühle wegen das 
Notwendige und einzig Heilsame aufgab. Die fernsten Zeiten werden es dem König 
Wilhelm Dank wissen, daß er fest und treu geblieben ist; seine Festigkeit hat die 
Gesundung Deutschlands ermöglicht. Mit seltener Menschenkenntnis wählte er seine 
Helfer zu seinem Werke aus; aber so dankbar er sich ihnen erwies, daß sie gleich 
ihm das Gemeinwohl zum Leitstern sich erwählt hatten, so machte ihn diese Dank¬ 
barkeit nicht blind in seinem Urteile, das sich in seiner Selbständigkeit in dem Brief¬ 
wechsel mit Roon wie in seinen Regierungshandlungen stets lebendig erwies. Nie 
hat er sein Ohr einem Günstling oder einem Vertrauten geliehen; der Minister, der 
in seinem Ressort erprobt war, war in diesem sein einziger Ratgeber; nie durfte ein 
anderer mit ihm über die Geschäfte desselben sprechen; vergebens war es überhaupt, 
mit ihm über Dinge zu reden, über die er keine Meinung verlangte; in seiner freund¬ 
lichen Weise hörte er nicht geforderten Meinungsäußerungen anfänglich ruhig zu, 
aber stets verstand er es, das Gespräch bald auf andere Gebiete zu lenken. Nach 
seinem Gewissen und nach eingehender Erwägung entschied er über die von zuständiger 
Seite gemachten Vorschläge. Das persönliche Eintreten Wilhelms I. bestimmte in 
weit höherem Maße die Geschicke Preußens und Deutschlands, als es der Gegenwart 
wirklich erscheint; wenn die Archive ihre Schätze einst eröffnen werden, wird man 
ein lebensvolleres Bild seiner Regententätigkeit entrollen können, als es jetzt möglich 
fft. Den Mitlebenden erschienen viele Taten seiner Zeit als der alleinige Ausfluß 
der Tätigkeit seiner Berater; in seiner Seelengröße erkannte er nicht nur neidlos
	        
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