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Kein Mensch auf der ganzen Erde war also wohl mehr imstande, den
Streit der Sänger auf der Wartburg zu entscheiden als Meister Klingsor, und aus
ihn hatte sich Heinrich von Ofterdingen berufen zur Zufriedenheit der übrigen
Sänger, die da glaubten, auf diesem Wege ihres Gegners sicher ledig zu werden.
Aber Heinrich von Ofterdingen meinte, er allein sei einer solchen Botschaft
an den weit und breit berühmten Klingsor nicht gewachsen, sah auch nicht wohl
ein, wie er ihn aus Ungarn nach der Wartburg bringen möchte. Darum machte er
sich auf zu dem Herzoge von Österreich, offenbarte ihm, wie es auf der Wartburg
ergangen, wie er ihn verglichen hätte der Sonne, wie der Landgraf Hermann von
Thüringen aber von den andern Sängern dem Tage verglichen worden wäre,
womit sie ihn hätten überlisten wollen, wie er sich aber auf Meister Klingsor zu
Ungarn berufen, der in allen Landen wegen seiner Gelehrsamkeit und Klugheit gar
berühmt wäre. Dann bat er den Herzog um Briefe an Meister Klingsor, damit der
desto bereitwilliger wäre, ihm nach der Wartburg zu folgen.
Solches gewährte auch der Herzog dem von Ofterdingen, dazu noch reichliches
Reisegeld, und also ausgestattet, eilte dieser zu Meister Klingsor. Dieser, nachdem er
die Ursache solcher Reise vernommen, auch die Briefe des Herzogs von Österreich
gelesen hatte, hieß Heinrich von Ofterdingen willkommen sein, tröstete ihn in seiner
Bekümmernis und versprach ihm, ihn sicherlich nach Thüringen zu begleiten. Zugleich
verlangte er die Lieder seines Gastes zu hören, damit er sich danach richten könnte.
Also mußte ihm Heinrich all seine Gesänge vortragen, die dem Meister über die
Maßen wohlgefielen, denn sie waren voll gutes Sinnes.
Nun aber schien es, als wollte Meister Klingsor gar keine Anstalt zu seiner
Reise machen und als hielte er seinen Gast nur durch Worte hin, so daß endlich
nicht mehr als ein Tag von der dem Heinrich von Osterdingen zugestandenen Zeit
übrig war. Da geriet Heinrich in große Angst und Betrübnis und klagte: „Meister,
ich fürchte, Ihr laßt mich im Stich, und ich muß allein und traurig meine Straße
ziehen. Dann bin ich ehrlos und darf zeitlebens nimmermehr nach Thüringen."
Da Meister Klingsor solche Reden hörte, sprach er ihm gütlich zu, gelobte ihm auch,
sicherlich mit nach der Wartburg zu fahren. „Ich habe starke Pferde," sprach er,
„und einen leichten Wagen; wir wollen den Weg in kurzer Zeit zurücklegen."
Aber Heinrich von Ofterdingen fand wenig Trost in dieser Rede, beklagte
vielmehr, daß er nach Ungarn gekommen, und konnte nicht schlafen. Darum gab
ihm der Meister abends einen Trank ein, durch den er sogleich in festen Schlaf
versenkt wurde. Dann legte er ihn auf ein Bett und sich dazu und befahl seinen
Geistern, daß sie ihn schnell nach Eisenach im Thüringer Land schaffen und in das
beste Wirtshaus niedersetzen sollten.
Das geschah; sanft und wohlbehalten kamen sie noch vor Tagesanbruch in
Heinrich Hellgrafens Hof an, der am St.-Georgen-Tor lag, linker Hand, wenn
man aus der Stadt ging. Im Morgenschlas hörte Heinrich bekannte Glocken läuten,
und er sprach: „Mir ist, als hätte ich diese Glocken schon gehört, und es deucht
mich, ich wäre in Eisenach." — „Dir träumt wohl," sprach Meister Klingsor.
Heinrich aber stand auf und sah sich uni; da merkte er, daß er in Thüringen war.
„Gott sei Lob, daß wir hier sind!" sprach er. „Das ist Hellgrafens Haus, und
hier sehe ich das Tor von St.-Georg und die Leute, die davor stehen und über
Feld gehen wollen."
Sogleich verbreitete sich die Nachricht von der Ankunft der beiden in ganz
Eisenach, und auch auf der Wartburg vernahm man, daß Heinrich von Ofterdingen
wieder angekommen wäre und den Meister Klingsor mitgebracht hätte, und die
Sänger gingen von dem Schlöffe, den Meister mit Ehrenbezeugungen und Geschenken
zu bewillkommnen, wie es der Landgraf ihnen geheißen hatte. Als man den Ofter¬
dingen fragte, wie es ihm ergangen, und wo er gewesen, antwortete er: „Gestern