49
Dreifach ist das Gebet der Menschen zu Gott, und kräftiger ist eines als das andere.
Ein Gebet mit stiller Stimme gefäͤllt ihm wohl; er hört's tief im Herzen und
nimmt's auch von der stammelnden Lippe gnädig auf.
Das Gebet der Not mit großem Geschrei durchdringt die Wolken und häuft
glühende Kohlen auf des Unterdrückers Haupt.
Doch mächtig über alles ist die Träne des Verlassenen, der fest an Gott sich
hält und stirbt. Sie sprengt Pforten und Riegel und dringt zum Herzen Gottes
und bringt den Blick des Schauenden hernieder.
31. Licht und Liebe.
Von G. v. Herder.
Saͤmtliche Werke. Herausgegeben von B. Suphan. Berlin 1882. Bd. XXVI, S. 312.
Im Anfange war alles wüst und leer, ein kalter Meeresabgrund; die Elemente
der Dinge lagen wild durcheinander. Da wehte Lebenshauch vom Munde des
Ewigen und brach des Eises Ketten und regte wie eine brütende Taube die erwärmen⸗ 16
den Mutterflügel sanft.
In dunkler Tiefe regte sich alles jetzt, aufringend zur Geburt. Da erschien der
Erstgeborene, das sanft erfreuende Licht.
Das holde Licht, vereint mit der Mutterliebe, die über den Wassern schwebte;
sie schwangen sich auf zum und webten das goldene Blau; sie fuhren hinunter 20
zur Tiefe und füllten mit Leben sie an; sie trugen die Erd' empor, einen Gottesaltar,
bestreuend sie mit immerverjüngten Blumen; den kleinsten Staub beseelten sie.
Und als sie Meer und Tiefen und Luft und Erde mit Leben erfüllt hatten, da
standen sie ratschlagend still und sprachen zueinander: „Lasset uns Menschen schaffen,
unser Bild; ein Gleichnis des, der Himmel und Erde und Licht und Liebe schuf“. *
Da fuhr Leben in den Staub, da strahlte Licht des Menschen göttliches Antlitz an,
und Liebe wählte sein Herz zu ihrer stillen Wohnung.
Der ewige Vater sah's und nannte die Schöpfung gut; denn alles fühlte, alles durch⸗
drang sein immerwirkend Licht und seine holde Tochter, die belebende Liebe, selbst.
Was murrst du, müßiger Weiser, und staunst die Welt wie ein dunkles Chaos s0
an? Das Chaos ist geordnet; ordne du dich selbst. Im wirkenden Leben nur ist
Menschenfreude; in Licht und Liebe nur des Schöpfers Seligkeit.
32. Das Kind der Barmherzigkeit.
Von G. v. Herder.
Saͤmtliche Werke. Herausgegeben von B. Suphan. Berlin 1882. Bd. XXVI, S. 316.
Als der Allmächtige den Menschen erschaffen wollte, versammelte er ratschlagend die
obersten Engel um sich. „Erschaffe ihn nicht!“, so sprach der Engel der Gerechtigkeit;
„er wird unbillig gegen seine Brüder sein und hart und grausam gegen den Schwächeren
handeln.“ „Erschaffe ihn nicht!“, so sprach der Engel des Friedens; „er wird
die Erde düngen mit Menschenblut; der Erstgeborene seines Geschlechts wird seinen v
Bruder morden.“ „Dein Heiligtum wird er mit Lügen entweihen“, so sprach der
Engel der Wahrheit; „und ob du ihm dein Bildnis selbst, der Treue Siegel,
auf sein Antlitz prägtest.“
Noch sprachen sie, als die Barmherzigkeit, des ewigen Vaters jüngstes, liebstes
Kind, zu seinem Throne trat und seine Kniee umfaßte. — „Bild' ihn“, sprach sie, Vater, »
zu deinem Bilde selbst, ein Liebling deiner Güte. Wenn alle deine Diener ihn ver—
lassen, will ich ihn suchen und ihm liebend beistehen und seine Fehler selbst zum
Guten lenken. Des Schwachen Herz will ich mitleidig machen und zum Erbarmen
gegen Schwächere neigen. Wenn er vom Frieden und der Wahrheit irrt, wenn er
Gerechtigkeit und Billigkeit beleidigt, so sollen seines Irrtums Folgen selbst zurück e
ihn führen und mit Liebe bessern.“
Kehru. Kriebitzsch, Deutsches Lesebuch. U. 14. Aufl.