Full text: Prosa für die zweite und erste Klasse (Teil 3, [Schülerband])

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30. Der Odenwald. 
Albert Kleiuschmidt, in G.Volk, Der Odenwald und seine Nachbargebiete. Stuttgart 1900. S.3ff. 
Der Odenwald ist ein Gebirge voll eigenartigen Reizes, ungleich den anderen 
Mittelgebirgen unseres Vaterlandes, dem einsamen, fast düsteren Harze, dem wald¬ 
reichen Thüringer Walde, dem ernsten Spessart, dem so außerordentlich wechselreichen 
Schwarzwalde. Der tiefe, sich über Quadratmeilen hinlagernde Bergforst fehlt ihm 
meist. Wie das ganze Gebirge etwas von dem sonnigen Charakter der Rheinlande 
hat, so finden sich auch in seinen Wäldern jene dunklen, schattenschweren Tiefen 
nicht, die anderen Waldgebirgen Deutschlands ein so eigenartiges, nicht selten 
düsteres und für den Fremden fast unheimliches Gepräge verleihen. Wer den 
Odenwald von der Bergstraße aus betrachtet, oder wer ihn gar vom Rhein aus 
vor sich lagern sieht, der meint wohl, Waldberg müsse sich endlos hinter Waldberg 
aufbauen, so daß die Talungen in den Massen der Wälder ganz verschwänden. 
Wer aber von einer der westlichen Talmündungen nach Osten hin aufwärts steigt, 
der erkennt bald, daß er sich in solcher Annahme getäuscht hat; der Odenwald ist 
ein waldreiches, aber kein ausschließliches, reines Waldgebirge. Neben dem Walde 
tritt als völlig gleichberechtigt das Kulturland auf: die saftige Wiese, der nährende 
Acker, die fröhlich gedeihende Obstbaumpflanzung. Und diese Eigentümlichkeit ge¬ 
reicht dem Gebirge nicht zum Nachteil. Sie ermöglicht die erstaunliche Menge 
reizvoller Fernblicke, sie macht eine Wanderung auch dann noch angenehm, wenn 
in den großen Waldgebirgen die Gründe längst kalt, ungangbar und nicht selten 
so düster geworden sind, daß ihr Anblick drückend auf die Seele wirkt. Auch in 
der späten Jahreszeit wandert's sich noch schön im Odenwalde. Lange bleibt das 
Grün der Wiesen, lange der Laubschmuck der Blätter, und selbst die Felder behalten 
vielfach einen Anflug von Grün, bis der erste Schnee die mancherlei darauf hervor- 
gesprossenen Feldblumen und Unkräuter unter seiner einförmigen weißen Decke 
begräbt. 
Auch in anderer Hinsicht fällt der Odenwald auf. Sein 2400 Quadratkilometer 
großes Gebiet zeigt keine scharf ausgeprägte, einheitliche Kammbildung, wie etwa 
der Thüringer Wald oder das Erzgebirge; vielmehr gleicht das Gebirge in seiner 
ganzen Bildung einem wellenförmigen Hochplateau, in dem sich allerdings zahl¬ 
reiche Rücken und Züge unterscheiden lassen, zwischen denen sich jedoch mehr oder 
weniger breite Talungen hinziehen, und die sich da und dort zu ziemlich geräumigen 
Hochflächen erweitern. Welches Gewirr von Tälchen und Schluchten, von Buchten 
und Winkeln aber auf diesem verhältnismäßig kleinen Raume! Es ist, wenn man 
von einer Höhe darauf herniederschaut, zuweilen fast, als hätte sich eine schöpferische 
Laune darin gefallen, dem Menschenauge einmal anschaulich zu machen, wie mannig¬ 
faltig und reizvoll sich ein verhältnismäßig kleines Bergland schon mit Hinsicht auf 
die vertikale Gliederung gestalten läßt. Von einem der Haupttäler aus streben 
zahlreiche größere und kleinere Seitentäler den umschließenden Höhen zu, verlieren 
sich in einem Bergjoche oder krümmen sich vor dem eigentlichen Rücken wieder 
sanft nach dem Haupttale zu; andere laufen in breite Talbuchten aus, in denen
	        
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