Full text: Prosa für die zweite und erste Klasse (Teil 3, [Schülerband])

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einsamen Denkens zurückzieht, um aus ihr wenigstens ein Stück des verlorenen 
Friedens wiederzugewinnen. 
Es war im Jahre 1084, wie die Legende berichtet, da kam über Hugo, den 
Bischof von Grenoble, ein wunderbar Traumgesicht, das ihn aus seiner Bischofs¬ 
stadt entrückte in die Wildnis des Gebirges Chartreuse. Dort in der felsstarren, 
schneebedeckten Einöde vermeinte er einen prachtvollen Tempel zu erschauen, und 
sieben Sterne zogen am Himmel auf und strahlten in geheimnisvollem Schimmer 
darauf nieder. Des anderen Tages erschienen sieben Pilgersmänner vor dem 
Bischof, warfen sich ihm zu Füßen und sprachen: Nehmt Ihr uns in Eure Arme 
auf und führt uns an den Ort der Zurückgezogenheit, dem unser Herz sich ent¬ 
gegensehnt. 
Es waren Lauduin von Toscana, Stefan von Bourg und Stefan von Wie, 
ehedem Canonici zu Valence, Hugo der Kaplan, Andreas und Warm die Laien¬ 
brüder, an ihrer Spitze aber Bruno Hartenfaust, der Cölner, müde des Skandals 
und der Verderbtheit des Jahrhunderts. . . 
Und der Bischof von Grenoble geleitete die Pilger selber in die weltabgeschiedene 
Höhe seiner Alpen; die Axt klang oben im Tannwald, Holzhütten erhoben sich um 
einen dem Felsen entspringenden Quell, eine Höhlung im Berg ward zum ersten 
Ort des Gebets geweiht . . . Der Grund zur Kartaufe war gelegt, und bald weiteten 
sich die Blockhäuser dieser asketischen Pioniere der Alpenwälder zu klösterlicher 
Ansiedlung, die durch die Strenge ihrer Ordensvorschrift schnell einen Ruf in der 
Christenheit gewann. 
Es ist ein eigen Verhängnis im Lebensroman des Stifters der Chartreuse, 
daß ihm auch hier nicht vergönnt blieb, die Freuden der Einsamkeit bis zu seinem 
Ende durchzukosten. Denn kaum waren vier Jahre verflossen, daß das einsiedlerische 
Häuflein sich in diesem Revier der Steinadler und Lämmergeier festgesetzt, so 
bestieg ein ehemaliger Schüler und späterer Kollege Brunos aus dem Rheimser 
Domkapitel als Urban IL den päpstlichen Stuhl. 
Schisma zerriß die Christenheit, Gegenpäpste erhoben sich, er fühlte das 
Bedürfnis, treue Parteigänger um sich zu scharen, und gedachte „der harten Faust", 
die unverwendet im Dienst der streitbaren Kirche in unzugänglicher Alpenwildnis 
Ruhe hielt. Ein Bote erschien in den Bergen der Chartreuse und brachte dem 
Stifter der geistlichen Ansiedlung den gemessenen Befehl des Oberhauptes der 
Christenheit, sich unverzüglich nach Rom zu begeben. 
Es mag ein bewegter Abschied gewesen sein, da Sankt Bruno, die stella de- 
serti, wie ihn seine Schüler nannten, wiederum hinabstieg durch die Engpässe der 
Berge, die ihn für immer von der Welt trennen sollten. 
Und schwere Arbeit wartete dort seiner; es galt, die normannischen Eroberer 
Apuliens und Calabriens an den päpstlichen Stuhl zu fesseln... am üppig cheva- 
leresken Hof des Herzogs Roger, auf einer von Griechen, Sarazenen und nor¬ 
mannischen Abenteurern bunt durchschüttelten politischen Schaubühne finden wir 
unseren Alpeneinsiedler wieder... vorgeschlagen zum Erzbischof von Reggio, — als 
Stifter des Klosters La Terre in Calabrien, — als päpstlichen Delegaten auf ver- 
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