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mit seiner reifsten Blütezeit abschließen solle. Mit dem Schaffen abschließen heißt
für ihn mit dem reinsten Lebensgenüsse abschließen, und das mag doch keiner, bevor
er wirklich tot ist. Daher geschieht es auch wohl, daß ein Nimmersatt sich auf den
Hund arbeitet mit geistiger Produktion, ja daß ein gescheiter Mann sich ohne
Not zu Tod studiert, während sich gewiß noch kein Holzhauer aus purem Berufs¬
eifer zu Tod gesägt hat.
Die Geschichte der Kunst und Literatur zeigt uns übrigens viel merkwürdige
Vorbilder von Männern, welche durch den rastlosen und doch maßvollen Fleiß des
höchsten Schaffens sich fort und fort auch leiblich frisch bewahrten, ja durch den
Lebensbalsam einer Arbeit, deren Mühsal zugleich Poesie und Genuß ist, sich aus
einer siechen Jugend zu einem kräftigen Alter hinaufarbeiteten und jugendlich
dichtend und bildend sich selbst verjüngten. Statt vieler schreibe ich nur die Namen:
Goethe, Humboldt, Kant, Haydn, Gluck, Tizian, Michelangelo.
Nicht die Geistesarbeit macht den Bureaumann zum Podagristen und Staats-
hämorrhoidarius, sondern vielmehr die Geistlosigkeit in seiner Stubenhockerei. Die
entwickelte Tatkraft der Gedanken veredelt das Gesicht, namentlich Stirn, Augen
und Mund, und ein durchgearbeiteter Manneskopf ist immer der männlich schönste.
Harmonische, freie und maßvolle Geistesarbeit veredelt aber nicht bloß den Kopf,
sondern den ganzen Leib, sie stärkt den Willen und mit dem Willen die Nerven¬
kraft. Wem sein geistiges Tagewerk Kopfweh macht und den Unterleib schwächt,
der hat das Ding schwerlich beim rechten Zipfel gefaßt. Oder sollte just die
Dummheit das Privileg des stärksten Gehirns und der festesten Nerven besitzen?
Ich habe mein Leben so ziemlich gleich geteilt zwischen starken Körperstrapazen und
angestrengter Geistesarbeit: wenn ich nun am Tage 12 Poststunden mit Sack und
Pack gewandert bin, so ist Hunger, Durst und Schlaf vortrefflich, wenn ich aber
auch nur 5 Quartseiten durchdacht und niedergeschrieben habe, so ist Hunger, Durst
und Schlaf noch weit vortrefflicher.
Ich sagte oben, die seligsten Augenblicke bei der Geistesarbeit seien der erste
Wurf und die letzte Hand, Empfangen und Vollenden; in beiden werde die
Arbeit zum freien Genuß, mitteninne aber liege der Schweiß und die Mühsal des
Schaffens.
Nicht im Entwurf bleiben die meisten Arbeiten stecken, sondern im ersten Teile
der Ausführung; selten dagegen und in der Regel nur durch äußeres Hindernis
bleibt ein über die Mitte vorgeschrittenes Werk Fragment. In der Mitte kommt
man über den Berg, und nicht die steilste Stelle, sondern das erste Ansteigen ist
bergauf das sauerste. Den Scheitelpunkt der Gebirgspässe nennt man in vielen
Gegenden „beim fröhlichen Mann"; denn mag der Wanderer von hüben und drüben
kommen, bei dieser Stelle ist er allemal fröhlich; und das Hinuntersteigen deucht
ihm nur noch ein Spiel. Bevor man aber in einer Arbeit beim „fröhlichen Mann"
angelangt ist, kostet es ganz besondere Willenskraft und Ausdauer.
Im Augenblicke des ersten Wurfes sitzen wir wie ein Feldherr hoch zu Roß,
ordnen und mustern unsere Reihen in keckem Flug und sehen überall schon ge¬
wonnen Spiel. Beim Ausführen aber müssen wir all die Schritte erst erkämpfen,
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