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des knisternden Tones hörte ans. Die neue Beschwerung des Sockels scheint die
zitternde Bewegung gehemmt zu haben.
Fast noch staunenswerter als die Wohnungen der Lebenden, waren die der Toten;
denn schon dem alten Ägyptier galt das Leben nach dem Tode für wichtiger als das
kurze irdische. Gemäß der Sitte der Ägyptier, ihre Toten an der Abendseite der
bewohnten Orte zu bestatten, fand sich westlich von Theben, in der vordersten Reihe
der libyschen Bergkette, die Toten st adt, ein großes Amphitheater von Katakomben
in einer Ausdehnung von zwei Stunden und jenseits einer einsamen, von schroffen
Felswänden umgebenen Schlucht, in einer zweiten Bergkette die (40) Gräber
der Könige, bestehend aus einer zusammenhängenden Reihe von Säulenhallen,
Kammern und Sälen, die ein Hauptgemach umgeben, in welchem der Sarkophag ruht.
Alles von den ersten Eingängen an, die ehemals mit Thorflügeln fest verschlossen
waren, ist mit bemalten Bildwerken und mit Fresken bedeckt, die alle nur bei künst¬
lichem Licht geschaffen und beschaut werden konnten und trotz ihres drei- bis vier¬
tausendjährigen Alters in merkwürdiger Frische erhalten sind. Im Grabe des Königs
Sethon fand Belzoni ein Prachtstück, das seines Gleichen nicht hat, einen (3 m langen,
2 m breiten) Sarkophag vom reinsten Alabaster, innerlich und äußerlich mit 2000
hieroglyphischen Figuren bedeckt, durchsichtig, wenn man ein Licht hinein setzt, jetzt ein
Hauptschmuck des britischen Museums.
Wie die Könige des sog. neuen Reiches unsern ihrer Residenz Theben sich ihre
Ruhestätten im Schoße der Berge bereiteten, so errichteten sich die Könige des alten
Reiches ebenfalls an der Abendseite ihrer Residenz, der ältesten Königsstadt Memphis,
jene künstlichen Berge als Leichenwohnungen, welche unter dem Namen der Pyra¬
miden bekannt sind. Auf einem westlichen Ausläufer der libyschen Wüsten-Hoch-
ebene, südlich vom heutigen Kairo, erheben sich 67 kleinere und größere Pyramiden;
die größte, die des Königs Cheops, ursprünglich 120 m senkrechte Höhe, ragt noch
jetzt, da die Spitze zerbröckelt und eine kleine Fläche an deren Stelle getreten ist,
120 m empor, die höchsten Werke von Menschenhänden überragend. Diese Bauten,
die man früher als die höchste Leistung der ägyptischen Kunst ansah, setzen allerdings
die Beschauer in Erstaunen durch die massenhafte Anhäufung der Steinmassen auf
einer riesigen Grundfläche (auf der der Pyramide des Cheops könnten die sechs
größten Dome nebeneinander Platz finden), aber in geistiger, in künstlerischer Be¬
ziehung steht der griechische Tempel oder der gotische Dom unendlich höher, als
diese ungeheueren, in den schärfsten Formen des Dreiecks eingeschränkten Stein¬
massen. Eine höhere Stufe nehmen die Tempel und Paläste ein, insofern hier das
Charakteristische der ägyptischen Baukunst nicht bloß in dem Riesenhaften des Maßes
besteht, sondern nicht minder in der nahen Beziehung zur Natur, und es ist schon
erwähnt, daß für die Kapitäler der Säulen die Pflanzen des Nilthals zum Vorbild
dienten; schon deshalb ist an eine Übersiedelung dieser Formen in andere Gegenden
nicht zu denken.
Ebenso können sich die ägyptischen Bildwerke an idealer Schönheit mit den
griechischen nicht messen. Die Bewegung ist bei den freistehenden Bildsäulen noch
steif; der Kopf 'blickt immer gerade vorwärts ohne alle Wendung zur Seite;
Beine und Füße sind, besonders bei den sitzenden Gestalten, dicht und starr an¬
einander geschlossen, eben so die Arme an dem Körper herabhängend ohne Be¬
wegung und Erhebung. Dagegen zeigt sich auf den Reliefs oft eine höchst bewegte
Handlung, weniger bei denen religiösen Inhalts, welche die Feierlichkeit durch eine
ruhige Handlung ausdrücken, als auf den geschichtlichen Reliefs, welche Land- und
Seeschlachten, Belagerungen, Triumphzüge, Jagden u. s. w. mit vieler Lebendigkeit
darstellen.
Auch die früheste Kenntnis verschiedener Wissenschaften nahmen die ägyptischen
Priester für sich in Anspruch. Die Alten schrieben den Ägyptiern die Erfindung der
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