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Die Tage seines Alters widmete Notker ausschließlich dem Gebete und der
Betrachtung. Längere Zeit kränkelte er, wurde dann von einem heftigen Fieber
ergriffen und empfing in Gegenwart feiner Ordensbrüder mit hoher Andacht die
Wegzehrung des heiligsten Geheimnisses des Leibes und Blutes Christi uno die
5 Salbung des hl. Öles, sagte seinen laut weinenden Brüdern Lebewohl und er¬
teilte ihnen seinen Segen. Sodann empfahl er sie und das Kloster St. Gallen
der Obhut Gottes und seiner Heiligen Gallus und Othmar und entschlief ruhig
und sanft, wie er gelebt, am 8. April 912. Der Wunsch seiner Heiligsprechung, den
schon Papst Jnnoeenz III. ausgesprochen hatte, wurde durch Papst Julius II. 1513
io erfüllt. Seine Gebeine ruhen in der Domkirche von St. Gallen.
39. Die heilige Elisabeth.
Nach I. Jungnitz und Räß-Weis.
Elisabeth war die Tochter des Königs Andreas von Ungarn. Schon als vier¬
jähriges Kind wurde sie nach der Sitte jener Zeit mit Ludwig, dem Sohne des Land-
15 grafen von Thüringen und Hessen, verlobt und auf die Wartburg bei Eisenach gebracht,
um mit ihrem sechs Jahre älteren Bräutigam gemeinschaftlich erzogen zu werden.
Zur Jungfrau herangeblüht, ließ sie sich von den Eitelkeiten der Welt nicht blenden,
fand nur in den Übungen der Frömmigkeit und im Wohlthun ihre Freude und ertrug
mit unüberwindlicher Geduld die Beleidigungen und Verleumdungen der Hofleute.
20 Diesen behagte nämlich ihre gottselige Sinnesart nicht. Ludwig aber wußte die
Tugenden seiner Braut besser zu würdigen, und nachdem er sich mit ihr vermählt
hatte, gab er ihr unbedingte Freiheit, den Weg der Vollkommenheit zu wandeln und
ihren Liebeswerken obzuliegen.
Während einer Hungersnot, welche im Jahre 1224 Deutschland heimsuchte, unter-
25 stützte sie mildthätig alle Notleidenden. Sie ließ auf ihre Kosten viele Waisen und
verlassenen Kinder erziehen. Jeden Tag wurden vor ihrer Wohnung für neunhundert
Dürftige Lebensmittel ausgeteilt. In Eisenach erbaute sie ein Spital, in dessen Nähe
der Brurtnen lag, welcher heute noch ihren Namen trägt. Elisabeth weilte mit Vor¬
liebe unter den Kranken des Spitals, sie pflegend und tröstend. Aus diesem Grunde
30 sind auch der Brunnen und das Spital zum Mittelpunkt so vieler frommen Sagen
geworden. Aus dem Brunnen schöpfte sie Fische für die Kranken; eine Magd, die
von ihr zu demselben Zwecke zum Brunnen geschickt war, wollte nicht glauben, daß
in der klaren Felsenquelle Fische seien, aber sie wurde gläubig, als sie den Eimer, mit
Fischen gefüllt, aus der Krystallflut der Bergquelle zog. Als Elisabeth für ihr Kranken-
85 haus auf dem Markte zu Eisenach irdene Waren gekauft hatte und der Kbämer auf
dem unebenen Wege den Karren umwarf, so daß er gegen die Felswand fiel, zerbrach
kein einziges Stück.
Ihrer außerordentlichen Wohlthätigkeit wegen erfreute sich Elisabeth aber auch eines
ganz besonderen Schutzes von oben. Hiervon spricht die größte Zahl der Legenden
40 aus ihrem Leben, unter welchen neben den Erzählungen von Elisabeths Rosen vor¬
zugsweise eine Begebenheit bekannt ist, so sich bei Gelegenheit der Vermählung ihrer
Schwägerin Agnes mit dem Herzoge von Österreich zutrug. Elisabeth wollte, be¬
kleidet mit dem leichten seidenen Mantel, den, dem damaligen Brauche entsprechend,
die Jungfrauen und Frauen bei Tische trugen, zur Hochzeitsseier gehen, als sie im
45 Treppenhause des Schlosses einen armen Mann sitzen sah. Derselbe bat sie flehent¬
lich um ein Almosen, indem er auf seine gebrechlichen und unbedeckten Glieder hin¬
wies. Elisabeth wurde von der Armut des Mannes so gerührt, daß sie ihm ihren
seidenen Mantel zuwarf. Als sie nun im Festsaale erschien, fragte der Landgraf:
„Wo ist dein Mantel?" Sie antwortete erschrocken und verwirrt: „Herr, er war