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sonst ihre Festtagsreinigung vornehmen zu können und feierliche Pfingsten zu
halten. Aber es wurde Nachmittag, und noch kein Tropfen war gefallen: die
Wolken wurden zwar nicht dünner', — aber es kam auch der Abend, und kein
Tropfen war gefallen.
Des andern Morgens, als sich die Augen aller Menschen öffneten, war der
ganze Heidehimmel grau, und ein dichter, sanfter Landregen träufelte nieder.
Alles, alles war nun gelöst: die freudigen Festgruppen der Kirchgänger rüsteten
sich und ließen gern das köstliche Naß durch ihre Kleider sickern, um nur zum
Tempel Gottes zu gehen und zu danken.
59. Der Rhein.
B. Mendelssohn.
Der Deutsche mag wohl auf seinen Rheinstrom stolz sein! Nicht auf seine
Grösse; viele andere Ströme, selbst europäische, übertreffen ihn weit an
Länge, Breite, Wasserfülle, an grossartiger Ausdehnung ihres Gebietes; nicht
einem aber ist ein so edles Ebenmass beschieden, so richtige Verhältnisse, so
vollständige Entwickelung; nicht einer sieht an seinen Ufern auf gleiche Weise
Kunst und Natur, geschichtliche Erinnerung und lebendige Gegenwart vereint.
In dem erhabensten und herrlichsten Mittelgebiete des mächtigen Alpen¬
gürtels hangen an himmelhohen Felsgipfeln mehr als dreihundert Gletscher,
welche dem Rhein ihre vollen, tobenden Gewässer zusenden. Wo sie aus den
Gebirgen hervortreten, da beruhigen und läutern sich diese ungestümen Alpen¬
söhne in etwa fünfzehn der grössten und schönsten Seeen, unergründlichen,
smaragdenen Becken, hier von unerklimmbaren Felsen eingeengt, dort von
Rebenhügeln und grünen Matten umkränzt; einer fast wie das Meer unab¬
sehbar. Krystallhelle Fluten entströmen diesen Seeen in raschem, doch schon
ruhigerem Lauf. Bald in einem Bette vermischt, wogen sie mächtig und
friedlich dahin, durch lachende Fluren, an stattlichen Schlössern, hohen
Domen, kunstreichen, belebten Städten vorbei, denen sie reiche Lasten zuführen.
Hohe Waldgebirge winken lange aus blauer Ferne, spiegeln sich dann in
dem herrlichen Strome, bis er die weite, schrankenlose Ebene betritt und nun
dem Schosse des Meeres zueilt, ihm mächtige Wasserspenden zu bringen und
sich dafür in seinem Gebiete ein neues Land zu erbauen.
An den Viegen des Rheines erklingen die Gesänge armer, aber freier
und froher Hirten; an seinen Mündungen zimmert ein ebenso freies, dabei
reiches, kunstsinniges, gewerbfleifsiges, unternehmendes Volk seine schwimmen¬
den Häuser, welche die fernsten Länder und Meere beschissen und einst be¬
herrscht haben. Wo ist der Strom, der eine Schweiz an seinen Quellen, ein
Holland an seinen Mündungen hätte? den seine Bahn so durch lauter frucht¬
bare, freie gebildete Landschaften führte? Haben andere weit grössere Wasser¬
fülle und Breite, so hat der Rhein klare, immer volle, sich fast gleichbleibende
Fluten, so ist seine Breite gerade die rechte, hinreichend für Floss und Schiff,
für allen Verkehr der Völker, und doch nicht so gross, dass sie die beiden
Ufer von einander schiede, dass nicht der erkennende Blick, der laute Ruf
ungehindert hinüberreichte. Mächtig und ehrfurchtgebietend erscheint er als
ein bewegter Wasserspiegel, in den heitersten Rahmen gefasst, nicht als eine
wässerige Öde mit nebligen Ufern.
Der Rheinstrom ist recht eigentlich der Strom des mittleren Europa.
An seinen alpinischen Quellen begegnen sich Burgund, Italien, das südliche
Deutschland. Seine ozeanische Niederung schiebt sich zwischen den Norden
Frankreichs und die Ebenen des alten Sachsenlandes ein und führt zu den
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