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der bald mit langsamer, still untergrabender Macht, bald mit wildstürmender
Gewalt ein Stück Land nach dem anderen von dem Eiland abbricht, so daß der
Halligbewohner schon die Jahre zählen kann, wann den Hütten und den Herden
der letzte Raum genommen sein wird.
Doch glücklich die Hallig, wenn hiermit ihr Bild vollständig gezeichnet
wäre! Wer es bleibt noch eine furchtbare Seite übrig. Zur Gewohnheit sind
die Ueberschwemmungen geworden, die, alles flache Land überwogend, an die
Werfte hinaufsteigen und an die Mauern und Fenster der Hütten mit ihrem
weißen Schaum hinanschlagen. Da blicken denn diese Wohnungen aus der
weiten, umrollenden Wasserfülle nur noch als Strohdächer hervor, von denen
man nicht glaubt, daß sie menschliche Wesen bergen, daß Greise, Männer,
Frauen und Kinder unterdessen vielleicht ruhig um ihren Theetisch her sitzen
Und kaum einen flüchtigen Blick auf den umdrängenden Ozean werfen. Aber
es bricht der Sturm zugleich mit der Flut auf das bange Eiland ein. Die
Wasser steigen gegen sechs Meter über ihren gewöhnlichen Stand hinauf. Der
Erdhügel, der eine Zeit lang zitternd widerstand, gibt nach; bei den unaus—
gesetten Angriffen bricht ein Stück nach dem andern ab und schießt hinunter.
Die Pfosten des Hauses werden dadurch entblößt; das Meer faßt sie, rüttelt sie.
Der Bewohner des Hauses rettet erst seine besten Schafe hinauf auf den Boden,
dann flieht er selbst nach, — und hohe Zeit war es! Denn schon stürzen die
Mauern, und nur noch einzelne Ständer halten den schwankenden Dachboden,
die letzte Zuflucht. Mit furchtbarem Siegesübermut schalten nun die Wogen
in dem unteren Teile des Hauses, und der Stützpunkte des Daches werden
immer weniger, des Daches, dessen Niedersturz rettungslos der Familie ein
schäumendes Grab bereitet. Aengstlich pocht das Herz bei jeder Erschütterung;
immer enger drängen die Unglücklichen sich zusammen. In der Finsternis sieht
keiner das entsetzensbleiche Antlitz des anderen, — im Donnergeroll der tobenden
Wogen verhallt das bange Gestöhn; der Mann preßt das Weib, die Mutter
ihre Kinder mit verzweiflungsvoller Todesgewißheit an sich; die Bretter unter
ihren Füßen werden von der drängenden Flut gehoben; aus allen Fugen
quellen die Wasser auf; das Dach wird durchlöchert. Da kracht ein Balken.
Ein furchtbarer Schreckruf! Noch eine martervolle Minute! Noch eine! Der
Dachboden senkt sich nach einer Seite; ein neuer Flutenberg schäumt herauf,
und — im Sturmgeheul verhallt der letzte Todesschrei.
Dennoch liebt der Halligbewohner seine Heimat, liebt sie über alles, und
der aus der Sturmflut gerettete baut sich nirgends sonst wieder an als auf
dem Fleck, wo er alles verlor, und wo er in kurzem wieder alles, und sein Leben
mit, verlieren kann.
3. Hamburg.
Nach Louis Thomas.
Hamburg ist die bedeutendste, grösste und reichste Hafenstadt Deutsech-
lands, wenn nieht des ganzen europäischen Festlandes. Glelch der anschwel-
lenden Flut, welehe die Kanäle der Stadt füllt, strömt und wogt hier das
Leben, das mit hunderttausend unsiehtbaren Händen gewaltig ineinander
greift. Hamburgs Lage an dem breiten, tiefen Elbstrome, in welehen hier
die schiffbare Alster mündet, ist eine überaus günstige. Mit der Ebbe
segeln die Schiffe seewärts, während die Flut die ankommenden sicher
in den Hafen trägt und die Kanäle der Stadt mit Wasser füllt. Wer aus
dem inneèren Dedtschland sieh hier zum erstenmal der Nordsee nähert,
wird von eigenen Gefühlen erfüllt werden. Eine solehe Wasserwelt hat