V. Blumenlese aus der poetischen Literatur
der Neuzeit.
Gottfried August Bürger.
142. Lenore.
5 Lenore fuhr ums Morgenrot
Empor aus schweren Träumen:
„Bist untreu, Wilhelm, oder tot?
Wie lange willst du säumen?"
Er war mit König Friedrichs Macht
io Gezogen in die Prager Schlacht
Und hatte nicht geschrieben,
Ob er gesund geblieben.
Der König und die Kaiserin,
Des langen Haders müde,
15 Erweichten ihren harten Sinn
Und machten endlich Friede;
Und jedes Heer, mit Sing und Sang,
Mit Pankenschlag und Kling und Klang,
Geschmückt mit grünen Reisern,
20 Zog heim zu seinen Häusern.
Und überall, allüberall,
Auf Wegen und ans Stegen,
Zog alt und jung dem Jubelschall
Der Kommenden entgegen.
25 „Gottlob!" rief Kind und Gattin laut,
„Willkommen!" manche froheBraut.—
Ach! aber für Lenoren
War Grus; und Kuß verloren.
Sie frug den Zug wohl auf und ab,
30 Und frug nach allen Namen)
Doch keiner war, .der Kundschaft gab,
Von allen, so da kamen.
Als nun das Heer vorüber war,
Zerraufte sie ihr Rabenhaar
35 Und warf sich hin zur Erde
Mit wütiger Gebärde.
Die Mutter lief wohl hin zu ihr:
„Ach, daß sich Gott erbarme!
Du trautes Kind, was ist mit dir?" —
Und schloß sie in die Arme.
„O Mutter, Mutter! hin ist hin!
Nun fahre Welt und alles hin!
Bei Gott ist kein Erbarmen.
O weh, o weh, mir Armen!" —
„Hilf, Gott, hilf! Sieh uns gnädig
Kind, bet ein Vaterunser! sän!
Was Gott tut, das ist wohlgetan.
Gott, Gott erbarmt sich unser!" —
„O Mutter, Mutter! Eitler Wahn!
Gott hat an mir nicht wohlgetan.
Was half, was half mein Beten?
Nun ist's nicht mehr vonnöten." —
„Hilf, Gott, hilf! Wer den Vater
kennt,
Der weiß, er hilft den Kindern.
Das hochgelobte Sakrament
Wird deinen Jammer lindern." —
„O Mutter, Mutter! was mich brennt,
Das lindert mir kein Sakrament!
Kein Sakrament mag Leben
Den Toten wiedergeben."
„Hör, Kind! Wie, wenn der falsche
Im fernen Ungarlande Wann
Sich seines Glaubens abgetan
Zum neuen Ehebande?
Laß fahren, Kind, sein Herz dahin!
Er hat es nimmermehr Gewinn!
Wann Seel' und Leib sich trennen,
Wird ihn sein Meineid brennen." —