Full text: [Band 2, [Schülerband]] (Band 2, [Schülerband])

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Edda; zwar war namentlich in England die Unterscheidung zwischen Kunst- 
dichtung und Volksdichtung lebendig geweckt worden: Herder jedoch mit 
seiner tiefsinnigen dichterischen Feinfühligkeit und mit seinem durch Rousseau 
geschärften Sinne für das Elementare und Naturwüchsige war der erste, der 
5 den Begriff der Volkspoesie zur vollen Geltung erhob und die Poesie als 
die naturnotwendige Muttersprache des menschlichen Geistes, als den Keim 
und Kern aller Religion, Philosophie und Geschichte erfaßte. 
Diese tiefe Erkenntnis, daß, wie Goethe sich im zehnten Buche von 
„Dichtung und Wahrheit" treffend ausdrückt, die Poesie nicht das Privat¬ 
io erbteil einiger weniger Gebildeter, sondern vielmehr eine allgemeine Welt- 
und Völkergabe sei, hat Herder immer und immer wieder in den ver¬ 
schiedensten Wendungen 'ausgesprochen, am klarsten und vollständigsten in 
dem 1768 geschriebenen Fragment: „Von der Entstehung und Fortpflanzung 
der ersten Religionsbegriffe". An einer andern Stelle, in der Abhandlung 
15 über Ossian, nennt Herder die Poesie der Naturvölker das Archiv des 
Volkslebens, den Schatz ihrer Wissenschaft und Religion, der Taten ihrer 
Väter und der Begebenheiten [ifjrer Geschichte, den Abdruck ihres Herzens, 
das Bild ihres häuslichen Lebens. — 
In Herders Wiedererweckung der Volkslieder wurde das alte Märchen 
20 vom Verjüngungsbrunnen geschichtliche Wahrheit. Vor allem muß man 
Goethes Bildungsgeschichte betrachten, um das Vollgewicht dieser Tat¬ 
sache lebendig nachzuempfinden. Am ersten und greifbarsten bekundete sich 
die Macht dieser Einwirkung naturgemäß in der Lyrik. Erst jetzt hörte 
man wieder den frischen und innigen Naturton echter Empfindung, und diese 
25 unverfälschten Herzensklänge erschufen sich eine sinnlichere und bildlichere 
Sprache und setzten den Reim wieder in seine alten Rechte ein. Wo Lied 
und Gesang als untrennbar gedacht und empfunden wurde, war die schleppende 
Odendichtung unrettbar verloren. Und mit dem singbaren Liede erstand und 
erstarkte zugleich der schlichte Volkston der Romanze und Ballade, die durch 
30 Gleims verhängnisvolles Vorbild sich zum Niedrigkomischen verflacht und 
entwürdigt hatte. Die neue deutsche Lyrik kam urplötzlich, wie die Blume 
im Frühling aus dem Boden sproßt. Was Wunder, wenn wir Herder auch 
in der Musik, die er als die natürliche Schwester der Dichtung betrachtete, 
als Freund und Verehrer schlichter Volksmelodien erblicken. Besonders 
35 wichtig ist Herder auch für die bildende Kunst geworden. Auch hier hat er 
eine völlig neue Epoche eingeleitet, ein Verdienst, das meist übersehen wird, 
weil die Wirkungen nicht so schnell und so unmittelbar eintraten wie in der 
Dichtung. 
Wer Einsicht in das Wesen der Plastik hat, wird wahrscheinlich nicht 
40 widersprechen, wenn Herder die Bildwerke der Griechen als „Muster der 
Wohlform", als Darstellung der „einfachen reinen Menschennatnr" und 
darum als „Leuchttürme" bezeichnet, die dem Schiffer, der nach ihnen steuert,
	        
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