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19. Graf Moltke.
Ernst Curtius.
Aus einer am 2. Juli 1891 gehaltenen Festrede.
Nichts ist für Moltkes Persönlichkeit so bezeichnend wie die versöhnende
5 Stellung, die er im Staatsleben einnahm. Denn man kann sagen, daß
alles, was nach der Schwäche menschlicher Natur an Reibungen und Gegen¬
sätzen zwischen Ständen und Berufsarten vorkommt, sich in ihm zu einer-
höheren Harmonie auflöste. Soldat mit Leib und Seele, hatte er doch immer
nur das Vaterland im Auge, und seine militärischen Gesichtspunkte waren
10 nie und nirgend von denen des staatlichen Lebens getrennt. Er wollte
nicht Rache nehmen für das, was in den Schreckenstagen seiner Jugend
und in den Zeiten vorher die Deutschen vom Übermut der Nachbarn zu
leiden gehabt hatten; er wollte nur die Wiederkehr solcher Schmach unmöglich
machen, die Volksgenosseu, die er ans seinen Wanderungen mit tiefem Un-
15 mut vom Vaterland verlassen, der Heimat entfremdet getroffen hatte,
wieder sammeln und die Bruderstämme, die gegeneinander in Waffen
gestanden, unzertrennlich unter einer Fahne einigen. Das Kriegsbanner, das
er als Feldherr trug, war im Sinne des obersten Kriegsherrn wesentlich
ein Banner des Friedens. Darum war er auch im Parlament als Ver-
20 treter der Armee immer beflissen, den unzertrennlichen Zusammenhang ihrer
Interessen mit denen von Staat und Volk deutlich zu machen. Man nenne,
sagte er, den Waffendienst eine unproduktive Tätigkeit, aber er bezwecke und
erziele doch die Sicherheit des Staates, ohne die Handel und Gewerbe nicht
gedeihen könnten; er sei die Schule der heranwachsenden Nation in Ordnung,
25 Pünktlichkeit, Reinlichkeit, Gehorsam und Treue, Eigenschaften, die für eine
spätere produktive Tätigkeit doch gewiß nicht wertlos seien. Seine Dar¬
legungen, von dem Geiste einer milden Weisheit getragen, ruhten immer
auf dem Grunde einer unwiderleglichen Wahrheit, deren Eindruck sich kein
Unbefangener entziehen konnte. Es war ihm ein Bedürfnis, alles, auch die
30 höchste Feldherrnkunst, auf den einfachsten, allgemein verständlichen Grund¬
sätzen aufzubauen; er kannte keine Soldatentugenden, die nicht auf sittlichem
Grunde ruhten.
Der erste Meister des Krieges, hat er nie den Reiz empfunden, die
Gelegenheit zu suchen, diese Meisterschaft zur Geltung zu bringen. War die
35 Entscheidung auf dem Schlachtfeld unvermeidlich, so hatte er nur ein Ziel:
so rasch und energisch wie möglich den Zweck zu erreichen, dem Vaterland
seine höchsten, unveräußerlichen Güter zu sichern, nach jedem Erfolge still
und bescheiden in' seine friedliche Tätigkeit zurücktretend. Ein Mann von
überlegener Geisteskraft, ist er nie auf seine persönliche Macht eifersüchtig
40 gewesen, in allen Feldzügen beflissen, den Führern der einzelnen Armeen
den freiesten Spielraum eigener Tätigkeit zu schaffen, nachdem er den Plan