Ihr Goldroß hielt die Stolze an
Und hob sich mit leuchtendem Blick
Und spähte hinunter und spähte hinan
Und wandte sich dann zurück:
„Blickt rechts, blickt links hin in die Fern',
Blickt vor⸗e und rückwärts herum!
So weit ihr überall schaut, ihr Herr'n,
Ist all' mein Eigenthum.
Viel tapfre Vasallen gehorchen mir,
Beim ersten Wink bereit;
Fürwahr, ich bin eine Fürstin hier,
Und fehlt nur das Purpurkleid!“
Die Bettlerin hört's, und rafft sich auf
Und steht vor der Schimmernden schon,
Und hält den weinenden Knaben hinauf
Und fleht in kläglichem Ton:
„O seht dies Kind, des Jammers Bild,
Erbarmet, erbarmet Euch sein,
Und hüllet das zitternde Würmlein mild
In ein Stückchen Linnen ein!“
„Weib, bist du rasend?“ zürnt die
Frau,
„Wo nähm' ich Linnen her?
Nur Seid' ist all, was an mir ich schau',
Von funkelndem Golde schwer.“
„Gott hüte, daß ich begehren sollt',
Was fremde mein Mund nur nennt!
O, so gebt mir, gebet, was Ihr wollt,
Und was Ihr entbehren könnt!“
Da ziehet Frau Hitt ein hämisch Ge—
sicht
Und neigt sich zur Seite hin,
Und bricht einen Stein aus der Felsenschicht
Und reicht ihn der Bettlerin.
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Da ergreift die Verachtete wüthender
Schmerz,
Sie schreit, daß die Felswand dröhnt:
„O würdest du selber zu hartem Erz,
Die den Jammer der Armen höhnt!“
Sie schreit's, und der Tag verkehrt sich in
Nacht,
Und heulende Stürme ziehn,
Und brüllender Donner rollt und kracht,
Und zischende Blitze glühn.
Den stutzenden Falben spornt Frau Hitt —
„Ei, Wilder, was bist du so faul?“
Sie treibt ihn durch Hieb und Stbße zum Ritt,
Doch fühllos steht der Gaul.
Und plötzlich fühlt sie sich selbst erschlafft
Und gebrochen den kecken Muth:
In jeglicher Sehne stirbt die Kraft,
In den Adern stockt das Blut.
Herunter will sie sich schwingen vom Roß,
Doch versagen ihr Fuß und Hand!
Entsetzt will sie rufen den Rittertroß,
Doch die Zunge ist fest gebannt!
Ihr Antlitz wird so finster und bleich,
Ihr herrisches Aug' erstarrt,
Ihr Leib, so glatt und zart und weich,
Wird grau und rauh und hart.
Und unter ihr strecken sich Felsen hervor
Und heben vom Boden sie auf,
Und wachsen und steigen riesig empor
In die schaurige Nacht hinauf.
Und droben sitzt, ein Bild von Stein,
Frau Hitt im Donnergeroll,
Und schaut, umzückt von der Blitze Schein,
Ins Land so grausenvoll.
162. Die Eisenbahn über den Sömmering.
Von A. Mauer.
Geographische Bilder. Langensalza 1868.
Zu den großartigsten Wegebauten der Neuzeit gehören an erster Stelle der Tunnel
durch den Mont-Cenis und die Eisenbahn über den Sömmering, einen Gebirgs—
zug der steirischen Alpen. Diese Bahn verbindet Wien, Laibach und Triest.
Das erste Gefühl beim Anblick dieses Riesenwerls ist Bewunderung der Kühn⸗
heit und Ausdauer des menschlichen Geistes, welcher in einem Zeitraum von zehn
Jahren tausend Schwierigkeiten überwand, damit der schwer mit Menschen und
Gütern beladene Dämpfwagenzug über jähe Gebirgsstufen leicht hinwegfliege. Die
nächste Empfindung aber ist Grauen. Fünf und eine halbe Meile weit fuͤhrt diese
Eisenbahn über tiefe Thalschluchten, durch lange Tunnels, über schmale Bergrücken
und dicht unter jäh emporragenden Klippen hin. Bei Gloggnitz, 1308 Fuß über
dem Meeresspiegel, beginnt die Steigung.
Vor dem Zuge befinden sich grüne Berge und eine schroffe Felswand; es sieht