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Wasserfülle, an kolossaler Ausdehnung ihres Gebiets; nicht einem aber ist ein so edles
Ebenmaß beschieden, so richtige Verhältnisse, so vollständige Entwickelung; nicht einer
sieht an seinen Ufern auf gleiche Weise Kunst und Natur, geschichtliche Erxinnerung
und lebendige Gegenwart vereint.
In dem erhabensten und herrlichsten centralen Gebiete des mächtigen Alpen—
gürtels hangen an himmelhohen Felsgipfeln mehr als dreihundert Gletscher, welche
dem Rhein ihre vollen, tobenden Gewässer zusenden. Wo sie aus dem Gebirg her—
vortreten, da beruhigen und läutern sich diese ungestümen Alpensöhne in etwa funf—
zehn der größten und schönsten Seen, unergründlichen, smaragdnen Becken, hier von
unerklimmbaren Felsen eingeengt, dort von Rebenhügeln und grünen Matten um—
kränzt; einer fast, wie das Meer, unabsehbar. Krystallhelle Fluten entströmen diesen
Seen in raschem, doch schon ruhigerem Lauf. Bald in einem Bette vermischt, wogen
sie mächtig und friedlich dahin, durch lachende Fluren, an stattlichen Schlössern, hohen
Domen, kunstreichen, belebten Städten vorbei, denen sie reiche Lasten zuführen. Hohe
Waldgebirge winken lang aus blauer Ferne, spiegeln sich dann in dem herrlichen
Strom, bis er die weite, schrankenlose Ebene betritt und nun dem Schoße des Meeres
zueilt, ihm mächtige Wasserspenden zu bringen und sich dafür in seinem Gebiet ein
neues Land zu erbauen.
An den Wiegen des Rheins erklingen die Gesänge armer, aber freier und froher
Hirten; an seinen Mündungen zimmert ein ebenso freies, dabei reiches, kunstsinniges,
gewerbfleißiges, unternehmendes Volk seine schwimmenden Häuser, welche die fernsten
Länder und Meere beschiffen und einst beherrscht haben. Wo ist der Strom, der
eine Schweiz an seinen Quellen, ein Holland an seinen Mündungen hätte? den
seine Bahn so durch lauter fruchtbare, freie, gebildete Landschaften führte? Haben
andere weit größere Wasserfülle und Breite, so hat der Rhein klare, immer volle,
sich fast gleichbleibende Fluten, so ist seine Breite gerade die rechte, hinreichend für
3 und Schiff, für allen Verkehr der Völker, und doch nicht so groß, daß sie die
eiden Ufer von einander schiede, daß nicht der erkennende Blick, der laute Ruf un—
gehindert hinüberreichte Mächtig und ehrfurchtgebietend erscheint er als ein bewegter
Wasserspiegel in den heitersten Rahmen gefaßt, nicht als eine wässerige Dede mit
nebeligen Ufern. Der Rheinstrom ist recht eigentlich der Strom des mittleren
Europas. An seinen alpinischen Quellen begegnen sich Burgund, Italien, das süd—
liche Deutschland. Seine oceanische Niederung schiebt sich zwischen den Norden Frank—
reichs und die Ebenen des alten Sachsenlandes ein und führt zu den britischen
Inseln hinüber. Aus der schönen Stromebene des mittlexen Rheins, einem berg—
ummauerten Centralgebiet, führen natürliche Wasserstraßen durch lange, enge Felsen—
thore zu reichen, herrlichen Landschaften, tief in das innerste Deutschland und Frank—
reich hinein. Die Mosel auf der linken, der Main auf der rechten Seite verbinden
Franken uud Lothringen. Der Rheinstrom selber aber und seine Ufer sind die große
Handels- und Reisestraße zwischen Süden und Norden, zwischen Holland und der
Schweiz, England und Italien, die eine immer größere Bedeutung erhält, je inniger
und lebendiger die Berührungen aller Art zwischen den verschiedenen Gliedern des
europäischen Staatensystems werden.
Das Quellgebiet des Rheins und die Region der Mündungen, die Schweiz und
Holland, haben wir in Verbindung mit den Apen und der norddeutschen Ebene zu
betrachten. Das im engeren Sinne deutsche Rheingebiet können wir in vier große
Provinzen eintheilen, zwei am Hauptstrome selber, zwei an seinen Zuflüssen ge—
legen: 1) die große Rheinebene von Basel bis Bingen; 2) das niederrheinische Berg—
land und seine Umgebungen, von der Nahe bis zur Lippe; 3) das Main- und Neckar—
land, auf der Ostseite, und 4) das Moselland, auf der Westseite des Rheins.
Dichter, Reisende, Erdbeschreiber haben den Rhein, wo er von Bingen bis
Bonn das Gebirge durchströmt, vielfältig und nie zu sehr gepriesen. Das Alpenland