Full text: Poetische Blumenlese oder Grundlagen für den Unterricht in der Poetik und Litteraturgeschichte

VIL. Balladen und Romanzen. 
173 
In des Waldes tiefste Gründe 
Flüchtete die Seherin, 
Und sie warf die Priesterbinde 
Zu der Erde zürnend hin: 
4. „Alles ist der Freude offen, 
Alle Herzen sind beglückt, 
Und die alten Eltern hoffen, 
Und die Schwester steht geschmückt. 
Ich allein muß einsam trauern, 
Denn mich flieht der süße Wahn, 
Und geflügelt diesen Mauern 
Seh' ich das Verderben nahn. 
5. „Eine Fackel seh' ich glühen, 
Aber nicht in Hymens Hand; 
Nach den Wolken seh' ich's ziehen, 
Aber nicht wie Opferbrand. 
Feste seh' ich froh bereiten; 
Doch in ahnungsvollem Geist 
Hör' ich schon des Gottes Schreiten, 
Der sie jammervoll zerreißt. 
6. „Und sie schelten meine Klagen, 
Und sie höhnen meinen Schmerz; 
Einsam in die Wüste tragen 
Muß ich mein gequältes Herz, 
Von den Glücklichen gemieden 
Und den Fröhlichen ein Spott! 
Schweres hast du mir beschieden, 
Pythischer, du arger Gott! 
7. „Dein Orakel zu verkünden, 
Warum warfest du mich hin 
In die Stadt der ewig Blinden 
Mit dem aufgeschlossnen Sinn? 
Warum gabst du mir zu sehen, 
Was ich doch nicht wenden kann? 
Das Verhängte muß geschehen, 
Das Gefürchtete muß nahn. 
8. „Frommt's, den Schleier auf— 
zuheben, 
Wo das nahe Schrecknis droht? 
Nur der n ist das Leben, 
Und das Wissen ist der Tod. 
Nimm, o nimm die traur'ge Klarheit, 
Mir vom Aug' den blut'gen Schein! 
Schrecklich ist es, deiner Wahrheit 
Sterbliches Gefäß zu sein. 
9. „Meine Blindheit gieb mir wieder 
Und den fröhlich dunkeln Sinn! 
Vimmer sang ich freud'ge Lieder, 
Seit ich deine Stimme bin 
Zukunft hast du mir gegeben, 
Doch du nahmst den Augenblick, 
Nahmst der Stunde fröhlich Leben 
Nimm dein falsch Geschenk zurück! 
10. „Nimmer mit dem Schmuck 
der Bräute 
Kränzt' ich mir das duft'ge Haar, 
Seit ich deinem Dienst mich weihte 
An dem traurigen Altar. 
Meine Jugend war nur Weinen, 
Und ich kannte nur den Schmerz; 
Jede herbe Not der Meinen 
Schlug an mein empfindend Herz. 
11. „Fröhlich seh ich die Gespielen, 
Alles um mich lebt und liebt 
In der Jugend Lustgefühlen; 
Mir nur ist das Herz getrübt. 
Mir erscheint der Lenz vergebens, 
Der die Erde festlich schmückt; 
Wer erfreute sich des Lebens, 
Der in seine Tiefen blickt? 
12. „Selig preis' ich Polyrxenen 
In des Herzens trunknem Wahn, 
Denn den Besten der Hellenen 
Hofft sie bräutlich zu umfahn. 
Stolz ist ihre Brust gehoben, 
Ihre Wonne faßt sie kaum, 
Nicht euch, Himmlische dort oben, 
Neidet sie in ihrem Traum! 
13. „Und auch ich hab' ihn gesehen, 
Den das Herz verlangend wählt; 
Seine schönen Blicke flehen, 
Von der Liebe Glut beseelt. 
Gerne möcht' ich mit dem Gatten 
In die heim'sche Wohnung ziehn; 
Doch es tritt ein styg'scher Schatten 
Nächtlich zwischen mich und ihn. 
14. „Ihre bleichen Larven alle 
Sendet mir Proserpina; 
Wo ich wandre, wo ich walle, 
Stehen mir die Geister da. 
In der Jugend frohe Spiele 
Drängen sie sich grausend ein 
Ein entsetzliches Gewühle! 
Nimmer kann ich fröhlich sein. 
15. „Und den Mordstrahl seh' ich 
blinken 
Und das Mörderauge glühn; 
Nicht zur Rechten, nicht zur Linken
	        
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