Full text: Poetische Blumenlese oder Grundlagen für den Unterricht in der Poetik und Litteraturgeschichte

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Zweite Abteilung. Epische Poesie. 
¶ Stille rings und tiefes Schweigen! 
Plötzlich, horch! ein leises Flüstern! 
In den Blumen, in den Zweigen 
Lispelt es und rauscht es lüstern. 
Drehn und schwingen sich und singen 
Der Entschlafnen diese Weise: 
5. Aus den Blutenkelchen schweben 
Geistergleiche Duftgebilde; 
Ihre Kleider zarte Nebel, 
Kronen tragen sie und Schilde. 
13. „Mädchen, Mädchen! von der 
Erde 
Hast du grausam uns gerissen, 
Daß wir in der bunten Scherbe 
Schmachten, welken, sterben müssen. 
6. Aus dem Purpurschoß der Rose 
Hebt sich eine schlanke Frau; 
Ihre Locken flattern lose, 
Perlen blitzen drin wie Tau. 
14. „O wie ruhten wir so selig 
An der Erde Mutterbrüsten, 
Wo, durch grüne Wipfel brechend, 
Sonnenstrahlen heiß uns küßten; 
7. Aus dem Helm des Eisen— 
hutes 
Mit dem dunkelgrünen Laube 
Tritt ein Ritter kecken Mutes; 
Schwert erglänzt und Pickelhaube. 
8. Auf der Haube nickt die Feder 
Von dem silbergrauen Reiher. 
Aus der Lilie schwankt ein Mädchen; 
Dünn, wie Spinnweb, ist ihr Schleier 
15. „Wo uns Lenzeslüfte kühlten, 
Unsre schwanken Stengel beugend; 
Wo wir nachts als Elfen spielten, 
Unserm Blätterhaus entsteigend. 
16. „Hell umfloß uns Tau und 
Regen, 
Jetzt umfließt uns trübe Lache; 
Wir verblühn — doch eh' wir sterben, 
Mädchen, trifft dich unsre Rache!“ 
9. Aus dem Kelch des Türken— 
bundes 
Kommt ein Neger stolz gezogen; 
Licht auf seinem grünen Turban 
Glüht des Halbmonds goldner Bogen. 
17. Der Gesang verstummt; sie 
neigen 
Sich zu der Entschlafnen nieder. 
Mit dem alten dumpfen Schweigen 
Kehrt das leise Flüstern wieder. 
18. Welch ein Rauschen, welch ein 
Raunen! 
Wie des Mädchens Wangen glühen! 
Wie die Geister es anhauchen! 
Wie die Düfte wallend ziehen! 
19. Da begrüßt der Sonne Funkeln 
Das Gemach; die Schemen weichen: — 
Auf des Lagers Kissen schlummert 
Kalt die lieblichste der Leichen. 
20. Eine welke Blume selber, 
Noch die Wange sanst gerötet, 
Ruht sie bei den welken Schwestern — 
Blumenduft hat sie getötet! 
10. Prangend aus der Kaiser— 
krone 
Schreitet kühn ein Scepterträger; 
Aus der blauen Iris folgen 
Schwertbewaffnet seine Jäger. 
11. Aus den Blättern der Nar— 
zisse 
Schwebt ein Knab' mit düstern Blicken, 
Tritt ans Bett, um heiße Küsse 
Auf des Mädchens Mund zu drücken. 
12. Doch ums Lager drehn und 
schwingen 
Sich die Geister wild im Kreise; 
) Gliedexung: 1. Die Person des Stückes und ihre äußere Situation (Str.1 
bis Str. B. N.2. Die Handlung, der Blumen Rache (Sir. 1 B S i ahe— 
zug der Elfen, b) Rachesang derselhen, d Rache der Blumengeister. 83. Die Katastrophe 
Str. 19 20Fod bes Madchens h) Grundgedante: Nach der Erfahrung 
kann der Mensch von zu slarkem Blumenduft betdͤubt werden, ja davon sterben. 
Freiligrath faßt den Tod eines Mädchens, der durch solchen Blumenduft verursacht 
war, anders auf; mit echt poetischem Sinn schreibt er denselben der Rache der Blumen⸗ 
geister, den Elfen zu, die nach der Sage auf dem Laube der Bäume oder in den Kronen 
und Kelchen der Vlumen wohnen. Mit dem Brechen der Blumen wird den Elfen
	        
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