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221. Die drei Blicke.
Ein frommer Mann wurde einst gefragt, woher es komme, daß er
trotz aller Drangsale des Lebens doch solchen Gleichmut in sich bewahren
könne. Er antwortete: „Das kommt daher, daß ich meine Augen wohl in
acht nehme; denn alles Böse kommt durch die Sinne znm Herzen, aber
auch das Gute." — Auf die weitere Frage, wie er es mache, sagte er:
„Jeden Morgen, ehe ich an die Geschäfte und unter die Menschen gehe,
richte ich meine Augen bedachtsam auf drei Dinge. Erstens hebe ich sie gen
Himmel und erinnere mich, daß mein Hauptgeschäft und das Ziel meines
Lebens und Strebens dort oben sei. Zweitens senke ich sie zur Erde und
bedenke, wie wenig Raum ich bedarf, um einst mein Grab darin zu finden.
Drittens endlich schaue ich um mich und betrachte die Menge derer, denen
es noch schlimmer ergeht als mir. Auf diese Art getroste ich mich alles
Leides und lebe mit Welt und Menschen zufrieden in Gott."
B. Auerbach.
222. Rabbi Möirs Gattin.
Rabbi Möir, der große Lehrer, saß am Sabbath in der Lehrschnle
und unterwies das Volk. Unterdessen starben zu Hause, von einem und
demselben Blitzstrahle getroffen, seine beiden Söhne, schön von Wuchs und
erleuchtet im Gesetz. Seine Hausfrau nahm sie, trug sie aus den Söller,
legte sie aus ihr Lager und breitete ein weißes Gewand über die Leich¬
name. Abends, als Rabbi Möir nach Hause kam, war sein erstes Wort:
„Wo sinl meine Söhne, daß ich ihnen den Segen gebe?" „Sie sind nicht
well", antwortete die Gattin mit scheinbarer Gemütsruhe und reichte ihm
einen Becher; und er lobte den Herrn zum Ausgange des Sabbaths. Dann
setzte sie ihm zu essen vor und der Rabbi war guter Dinge. Und als er
nach der Mahlzeit das Dankgebet gesprochen hatte und sich wieder nach
dem lieben Paar erkundigte, sprach sie: „Rabbi, erlaube mir eine Frage!
Unlängst gab mir jemand ein Doppelkleinod in Verwahrung, und jetzt for¬
dert er es zurück. Soll ich es wiedergeben?" — „Das sollte meine Frau
nicht erst fragen", sprach Rabbi Möir; „wolltest du Anstand nehmen,
einem jeden das Seine zukommen zu lassen?" — „Ja, ich will es wieder¬
geben", versetzte sie, „so schwer mir auch die Trennung von ihm wird.
Komm und sieh, was es für ein liebes Kleinod ist!" Und sie führte ihn
auf den Söller in die stille Kammer, trat vor das Lager hin und nahm
das Gewand von den Leichnamen weg. „Ach! meine Söhne! meine Söhne!"
ries der Vater im höchsten Schmerze aus und warf sich jammernd ans die
Leichname der Geliebten hin. Sie wendete sich hinweg und weinte still.
Endlich aber kehrte sie sich um, ergriff den Gatten bei der Hand und sprach:
„Rabbi, hast du mich nicht gelehrt, daß man sich nicht weigern dürfe
wiederzugeben, was uns zur Verwahrung anvertraut ward? Siehe, die
Kraft deiner Lehre hat sich an meinem Herzen bewährt! Der Herr hat's
gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobet!" —-
„Ja, der Name des Herrn sei gelobet!" stimmte der Rabbi laut mit ein-