Full text: Poetische Blumenlese oder Grundlagen für den Unterricht in der Poetik und Litteraturgeschichte

XIV. Fremde Formen. 
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4. Fürwahr, du bist dem Lehrer zu vergleichen, 
Der seinen Zögling ob gestohlnen Kirschen 
Ausschalt und scheltend selber sie gefressen. 
Das „reine Hermelin der alten Schule“ ist Goethe, der längere Zeit eine 
Abneigung gegen das Sonett als einer zu kunstreichen Dichtform hatte, und die der— 
selbe in einem „Sonett“ auch ausgesprochen hatte; er sagt daxin, daß er so gern aus 
anzem Holze schneide beim Sonett aber mitunter auch leimen und flicken müsse. 
H. Voß zog das eade Gedicht heran als einen Beweis, daß Goethe das 
onett auch verworfen habe. 
466. Grahschrift. 
Ein Sonett. 
Angust Graf v. Platen. 
1. Ich war ein Dichter, und empfand die Schläge 
Der bösen Zeit, in welcher ich entsprossen; 
Doch schon als Jüngling hab' ich Ruhm genossen, 
Und auf die Sprache drückt' ich mein Gepräge. 
2. Die Kunst zu lernen war ich nie zu träge, 
Drum hab' ich neue Bahnen aufgeschlossen, 
In Reim und Rhythmus meinen Geist ergossen, 
Die dauernd sind, wofern ich recht erwäge. 
3. Gesänge formt' ich aus verschiednen Stoffen, 
Lustspiele sind und Märchen mir gelungen 
In einem Stil, den keiner übertroffen: 
4. Der ich der Ode zweiten Preis errungen 
Und im Sonett des Lebens Schmerz und Hoffen, 
Und diesen Vers für meine Gruft gesungen. 
unn auch die „Grabschrift“ im Munde des n als übertriebenes Selbst⸗ 
lob, so enkhält sie doch Wahrheit. Platen durfte mit Recht von sich rühmen: „Und 
3 die Sprache drückt' ich mein Gepräge.“ Auch Jakob Grimm bezeugt es von ihm, 
daß er „sorgsam auf Reinheit und Frische des deutschen Ausdrucks“ gehalten habe. 
467. 
Musik am Abend. 
Terzinen. 
Friedrich v. Sallet. 
1. Im Abendstrahl saß ich an stillen Wogen, 
Mein Sinnen schweift' in unbestimmten Kreisen, 
Und Flötenklang kam übern See gezogen. 
2. Es tönt' in süßen tiefempfundnen Weisen; 
Mein Herz, geweckt zu neuer Liebeswärme, 
Stimmt' in die lauten Klänge ein mit leisen. 
3. Wofür ich hier in Wonneträumen schwärme, 
Wie fühlt' ich's da! die Seligkeiten alle, 
Um die ich nun mich, ach! in Sehnsucht härme. 
4. Der Flötenton starb hin in leisem Halle, 
Doch innen tönten meines Busens Saiten, 
Nachbebend lange noch mit geist'gem Schalle.
	        
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