Full text: Poetische Blumenlese oder Grundlagen für den Unterricht in der Poetik und Litteraturgeschichte

Zweite Abteilung. 
GEpischesoesie. 
J. Märchen. 
93. Die wandelnde Glocke. 
Johann Wolfgang v. Goethe. 
1. Es war ein Kind, das wollte nie 
Zur Kirche sich bequemen, 
Und Sonntags fand es stets ein Wie, 
Den Weg ins Feld zu nehmen. 
2. Die Mutter sprach: „Die Glocke 
tönt, 
Und so ist dir's befohlen, 
Und hast du dich nicht hingewöhnt, 
Sie kommt und wird dich holen.“ 
3. Das Kind, es denkt: „Die Glocke 
hängt 
Da droben auf dem Stuhle.“ 
Schon hat's den Weg ins Feld gelenkt, 
Als lief' es aus der Schule. 
4. „Die Glocke, Glocke tönt nicht 
mehr, 
Die Mutter hat gefackelt.“ 
Doch welch ein Schrecken hinterher! 
Die Glocke kommt gewackelt. 
5. Sie wackelt' schnell, man glaubt 
es kaum; 
Das arme Kind im Schrecken: 
Es läuft, es kommt, als wie im 
Traum; 
Die Glocke wird es decken. 
6. Doch nimmt es richtig seinen 
Husch, 
Und mit gewandter Schnelle 
Eilt es durch Anger, Feld und Busch 
Zur Kirche, zur Kapelle. 
7. Und jeden Sonn⸗ und Feiertag 
Gedenkt es an den Schaden, 
Läßt durch den ersten Glockenschlag, 
Nicht in Person sich laden. 
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a) Entstehung des Gedichtes: Das Ganze,“ meldet Riemer, „beruht auf einem 
Scherz und Spaß, den sein (des Dichters) Sohn und ich gemeinschaftlich mit einem 
kleinen Knaben zu treiben liebten, der, des Sonntags vor der Kirchzeit uns besuchend 
bei beginnendem Geläute, besonders der durchschlagenden großen Elycke sich einiger— 
maßen zu fürchlen scchienn Nun machtlen wir thin weis, die Glocke steige auch wohl 
von ihrem Sluhle herab, käme über Markt und Straße hexgewackelt und könne sich 
leicht über ihn herstuͤlpen, wenn er sich draußen blicken lasse. Diese wackelnde ein⸗ 
beinige Bewegung bildete der humor- und scherzreiche August Goethes Sohn) mit 
einem lan en Regenschirme dem Kinde vor und brachte es dadurch, wo nicht 
zum Glauben, doch zur einer Möglichkeit der Sache. Nach langen Jahren 
überraschte mich Goethe durch Zusendung jenes Gedichtes das aus einer kindischen 
e bine lehrreiche Kinderfabel entwickelte. — b) Grundgedanke: „In Gottes 
aus soll man freiwillig gehen.“
	        
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