Full text: [Teil 2 = Klasse 8, [Schülerband]] (Teil 2 = Klasse 8, [Schülerband])

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24. Erlebnisse eines Maikäfers. von Karl piiz. 
Die kleinen Tierfreunde. 8. verbesserte Auflage. Leipzig 1903. S. 113. 
enn der liebe Mai kommt, bringt er nicht nur schöne Blumen, 
VV blühende Bäume und einen lachenden, freundlichen Himmel 
mit, sondern er lockt auch allerhand Gäste herbei, die uns teils 
angenehm, teils unangenehm sind. Zu den unangenehmen gehören 
die summenden und schwirrenden Maikäfer, die sich scharenweise 
auf den frischen grünen Bäumen niederlassen und dort solche Ver¬ 
wüstungen anrichten, daß Zweige und Äste ihres ganzen Blätter¬ 
schmucks beraubt werden. Da kommen dann die Menschen, suchen 
die Maikäfer zu fangen und zu töten, damit dieser Verwüstung 
Einhalt getan werde. Aber der Maikäfer ist trotzdem ein inter¬ 
essantes Tierlein mit seinen braunen Flügeldecken, seinen Fühlern 
und seinen zierlichen Beinen. Am Tage schläft er gewöhnlich oder 
sitzt wie erstarrt da; des Nachts fliegt er umher. Fängt man ihn, 
so stellt er sich tot und rührt kein Glied. Sobald er sich aber 
sicher fühlt, fliegt er auf und davon. Merkwürdig sind seine 
Lebensschicksale; er mag sie euch selbst erzählen. 
„Nicht immer sah ich so aus, wie ich jetzt aussehe. Meine 
Mutter war gestorben, als ich aus einem kleinen Ei kroch unten 
in der Erde. Vielleicht wunderst du dich, wenn du erfährst, daß 
wir schon drei Jahre alt sind, wenn wir das Licht der Sonne er¬ 
blicken. Da unten in der Erde hatte ich die Gestalt einer Raupe. 
Ein grauweißliches Kleid, an dessen vorderem Teile sich sechs 
kleine Beine befanden, deckte meinen Leib, und meinen Mund 
zierten zwei rötliche, zangenartige Werkzeuge. Es war eine Lust, 
dort unten mit diesen Zangen an den Wurzelstöcken der Pflanzen zu 
nagen und ihren guten Saft einzuschlürfen. Ein alter Kamerad war 
schon ein paarmal zufällig auf die Oberfläche der Erde gekommen 
und dort nur mit genauer Not dem scharfen Pflug des Landmanns 
und dem Schnabel der gefräßigen Krähe entgangen. Von ihm er¬ 
fuhr ich, daß uns die Menschen Engerlinge nennen und gar nicht 
zufrieden mit uns sind, weil wir ihnen die Felder verwüsten. Es 
ging aber mir und meinen Brüdern da unten recht wohl, nur 
manchmal standen wir wahre Todesangst aus, wenn die kleinen, 
gewandten Spitzmäuse auf uns Jagd machten, oder wenn unser 
grimmigster Feind, der Maulwurf, in der Nähe war, der mit Hei߬ 
hunger und grausamer Lust meine armen Kameraden verschlang. 
Nach Verlauf von zwei Jahren merkte ich, daß ich einer von 
den größten Engerlingen war, und träumte schon davon, ein Riese 
unter meinesgleichen zu werden. Da fühlte ich, daß meine Kräfte 
mehr und mehr nachließen; ich verlor den Appetit und befand
	        
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