Full text: [Teil 2 = 3. und 4. Schuljahr, [Schülerband]] (Teil 2 = 3. und 4. Schuljahr, [Schülerband])

286 
Genau betrachtet schob er den Beschenkten mehr zur Tür hin¬ 
aus, als daß er ihn entließ. Denn er sürchtete, der Tagewächter 
in Weidenbach möchte seiner ansichtig werden und ihm Angelegen¬ 
heiten machen. In dem Dorf ging nämlich nicht allein bei Nacht, 
sondern auch am hellen Tage ein Wächter auf und ab, der Vaga¬ 
bunden wegen, welche sich in die Häuser schlichen und entweder 
Weiber und Kinder durch Drohungen ängstigten, bis man ihnen 
gab, was sie verlangten, oder mitnahmen, was ihnen gerade unter 
die Hand kam. Und dieser Wächter kam dazu, als das Bürschlein 
den geschenkten Silberling auf der einen Seite in die Westentasche 
steckte und auf der andern das empfangene Hemd unter dem Über¬ 
rock zu verbergen suchte. Diese Bemühung kam dem Hüter des 
Dorfes verdächtig vor. Er nahm daher seinen Spieß, wie zu einem 
Anlauf, in die zwei Hände, rief dem vermeintlichen Dieb zu: „Er 
geht mit mir!" und führte ihn zum Schultheiß. Weil aber dieser 
nicht zu Hause war, vertrat das Weib seine Stelle und begann 
die Untersuchung mit den gewöhnlichen Fragen: „Woher?" „Wo¬ 
hin?" „Was für ein Handwerk?" und der Wächter zog unter 
seinem, des Arrestanten, Nock ein Hemd hervor, das war nagel¬ 
neu und hatte nur — einen Ärmel. Denn die Pfarrerin hatte den 
andern noch nicht eingesetzt. 
„Ein offenbarer Beweis," sagte die Schulzin, indem sie die 
Untersuchung schloß und das Urteil fällte, „ein offenbarer Beweis, 
daß der Schlingel das Hemd von dem Nähtische der Frau Pfar¬ 
rerin weggestohlen hat. Life, sperr' ihn in die Bodenkammer hin¬ 
auf. Morgen fährt der Vater Holz in die Stadt, da kann er ihn 
mitnehmen und an dem Zuchthause abladen." Lise erhob sich auch 
sogleich von der Bank und streckte nach dem Arrestanten einen 
Arm aus, der schon mehr als einmal einen zweijährigen Stier beim 
Horn gefaßt und festgehalten hatte. Aber dem Bürschlein, das 
bis dahin nur mit Zittern und Zähneklappern geantwortet hatte, 
gab die Furcht vor der kalten Bodenkammer und den: nahen Zucht¬ 
hause auf einmal die Sprache wieder, und es verlangte zu dem 
Pfarrer geführt zu werden. Die Ortsvorsteherin und ihre Tochter 
wollten zwar von seiner Berufung auf den Pfarrer nichts hören. 
Aber der Tagewächter hatte von dem Schultheiß mehr Kriminal¬ 
justiz gelernt als das Weibsvolk. Er schlug sich auf die Seite sei¬ 
nes Arrestanten, führte ihn in das Pfarrhaus zurück und ließ ihn
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.