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Gestalt verwandeln kann. Bald erscheint er als Bär oder als Hirsch,
bald als Wolf oder als Esel und lockt auf diese Weise die Menschen
in seine Höhle, um sie zu verschlingen. Ich rate dir, entsage der
50 Jagd ganz und gar und betritt überhaupt niemals den verzauberten
Wald!“
5. Aber Richard kannte keine Furcht, und die Jagd war sein
liebstes Vergnügen. Also zog er eines Morgens ganz allein mit seinen
Jagdhunden in den unheimlichen Wald. Es dauerte nicht lange,
55 so erblickte er eine schöne, weiße Hirschkuh, die er eifrig bis tief
hinein in die Wildnis verfolgte. Indes hatte sich der Himmel mit
schwarzen Wolken bezogen, und es erhob sich ein so dichtes Schnee¬
treiben, daß Richard bald nicht mehr die Hand vor den Augen
sehen konnte. Er war froh, als er ganz in der Nähe eine große
60 Höhle fand, in der er mit seinen Hunden Schutz suchen konnte.
Da es nun sehr kalt war, sammelte er Reisig und zündete ein Feuer
an, um seine erstarrten Glieder zu wärmen.
6. Als er sich’s bequem gemacht hatte, so gut es gehen wollte,
vernahm er plötzlich draußen vor der Höhle eine sanft klagende
65 Stimme und gewahrte die weiße Hirschkuh, die zu ihm sprach:
„Herr Ritter, erbarmt Euch meiner, denn ich zittre vor Frost. Ge¬
stattet mir, daß ich mich an Eurem Feuer wärme!“ Richard war
sehr erstaunt, das Tier sprechen zu hören, und nach der lieblichen
Stimme glaubte er nicht anders, als daß es eine holde Jungfrau sei,
70 welche die Gestalt der Hirschkuh angenommen habe. Darum ant¬
wortete er freundlich: „Komm herein und fürchte dich nicht!“
„Erst mußt du deine Hunde fest anbinden,“ sprach die Hirschkuh,
„damit sie mich nicht zerreißen.“ Richard gehorchte ihr, aber sie
sprach weiter: „Nun nimm auch deine Waffen ab und lege sie in
75 einen Winkel der Höhle, sonst wage ich nicht, dir nahe zu kommen.“
Und er tat, was sie verlangte.
7. Aber sobald die Hirschkuh sah, daß er wehrlos war, ver¬
wandelte sie sich in ihre wahre Gestalt, nämlich in den greulichen
Riesen, den Herrn des Waldes. Der packte Richard mit der einen
80 Faust, und mit der andern schob er ein Felsstück zur Seite, hinter
dem sich ein dunkles, schauerliches Verlies öffnete. Dahinein
schleppte er den Ritter zu seinen übrigen Gefangenen, denn in diesem
Kerker bewahrte er die Menschen auf, die er überlistet hatte, und