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mästete sie wie die Tiere im Stall, um sie aufzufressen, wenn es ihn
gelüstete. Keiner von ihnen vermochte das Felsstück fortzuwälzen, 85
denn der Riese band es mit starken Zaubersprüchen fest, jedesmal,
wenn er die Höhle verließ.
8. Während nun Richard in seinem Gefängnis saß und stünd¬
lich seinen Tod erwartete, sah Alfred, der jeden Morgen die Quelle
seines geliebten Bruders besuchte, wie sich das Wasser allmählich 90
trübte und anfing zu versiegen. Da wurde er von großer Angst
und Unruhe erfaßt und bat seinen Vater um die Erlaubnis, den
Bruder aufzusuchen. Aber sein Vater fürchtete, auch den zweiten
Sohn zu verlieren, und wollte ihn durchaus nicht ziehen lassen.
Da wuchs die Sorge um den Bruder in Alfreds Herzen so mächtig 95
an, daß er sich heimlich davonmachte, ganz allein, nur von zwei
klugen, starken Hunden begleitet. Sie hießen Wodan und Tyras
und hatten seinem Bruder gehört, der sie ihm zum Andenken ge¬
schenkt hatte.
9. Den Hunden zeigte Alfred ein Gewand, das Richard einst 100
getragen hatte, und sprach zu ihnen: „Sucht verloren!“ Sogleich
schlugen die Hunde den Weg ein, den Richard vor Monaten gezogen
war, und Alfred folgte ihnen. Als sie den nächsten Seehafen er¬
reicht hatten, erfuhr er, daß sein Bruder von dort aus über das Meer
nach Frankreich gefahren sei. Da bestieg er ebenfalls ein Schiff 105
und kam glücklich in Frankreich an. Als er gelandet war, vertraute
er sich wieder den Hunden an, die auch glücklich Richards Spur
entdeckten und ihren Herrn bis an das Fürstenschloß führten, wo
Leonore in Kummer und Sorgen um ihren Gemahl saß und ihn
schon als einen Toten betrauerte. 110
10. In der Nähe des Schlosses wurde Alfred überall mit großer
Freude wie ein alter Bekannter von den Leuten empfangen und als
Fürst und Herr begrüßt. Da merkte er, daß sie ihn für seinen Bruder
hielten, der großen Ähnlichkeit wegen. Er ließ sich das auch ruhig
gefallen und beschloß, erst zu erkunden, wo sein Bruder geblieben 115
sei, ehe er sich zu erkennen gebe.
11. Der armen Leonore hatte man gemeldet, daß ihr Gemahl
zurückgekehrt sei, und sobald sie die frohe Kunde vernommen hatte,
lief sie Alfred entgegen und umarmte ihn mit Freudentränen. Er
sollte ihr gleich erzählen, was ihm in der langen Zeit begegnet und 120