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ihn mit dem Maul herunter uiib brachte ihn unter lauten: Jubel
der allmählich zugeströmten Menschenmenge sicher aus der Ge-15
fahr, so daß er selbst vollends hinabklettern konnte. Gleichsam
als wollte sie den übermütigen Kletterer für seine Waghalsigkeit
bestrafen, versetzte sie ihm am Boden einigemal recht derbe
Tatzenschläge.
165. Gral Ulrich und Wendelgard.
1. Am Ufer des Bodensees, da, wo jetzt Friedrichshafen liegt,
wohnte vorzeiten Graf Ulrich, ein Nachkomme Karls des Großen,
mit seiner schönen Gemahlin Wendelgard. Nun geschah es, daß
die Ungarn Deutschland verheerten und auch die Landschaft, wo
Graf Ulrich begütert war, heimsuchten. Er zog deshalb mit vielen 5
Edeln dem Feind entgegen, wurde aber gefangen genommen und
nach Ungarn geführt. Da er nicht heimkehrte, glaubte seine Ge¬
mahlin, er sei in der Schlacht gefallen; sie ließ sich in ein Nonnen¬
kloster aufnehmen und diente ihrem Gott mit Fasten und Beten.
Alle Jahre aber ging sie nach Hause, um dort das Gedächtnis ihres 10
verlornen Gemahls in feierlicher Trauer zu begehen und die Armen
zu beschenken.
2. Als sie im dritten Jahr in gleicher Absicht nach Hause ge¬
gangen war und sehr viele Arme sich herbeidrängten, um ein Al¬
mosen zu empfangen, kam darunter in ganz zerlumpten Kleidern 15
auch einer, der nicht bloß das Almosen von ihr empfing, sondern
auch ihre Hand heftig drückte und sie wider ihren Willen umarmte
und küßte. Die Umstehenden wollten ihr helfen und den frechen
Bettler züchtigen; der aber begann zu rufen und zu sagen:
„0 laßt mich gehen! Ich habe genug Schläge und Elend in der 20
Gefangenschaft ausgestanden! Ich bin Ulrich, euer Graf, welchen
Gott aus sonderlicher Gnade von einem grausamen Volk errettet
und euch wieder geschenket hat." Alsbald wurde er auch er¬
kannt und von seiner treuen Gemahlin und allen andern be-
willkommt und mit großer Freude aufgenommen. Wendelgard 25
legte ihr Nonnenkleid ab und kehrte zu ihrem lieben Gemahl
zurück.
Lesebuch f. d. höheren Schulen. I.
Nach Ernst Meier.
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