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22. Am Qrsbcn« Von Heinrich Scharrelmann.
Weg zur Kraft. Hamburg 1904. S. 87.
anz still war die Welt, denn es war am Sonntag¬
morgen und sehr früh. Die meisten Menschen
mochten noch in ihren weichen Betten liegen und
träumen und schnarchen. Aber da es ein schöner
Tag werden wollte, waren die Sperlinge eine halbe
Stunde früher wach geworden als sonst, und von
allen Bäumen zwitscherte und jubelte es in den
goldenen Frühlingsmorgen hinein. Es war die Zeit der ersten
warmen Tage, der ersten wirklich warmen Tage, und wo nur ein
Grasfleckchen war, da blühten auch ein paar Butterblumen.
Der ganze Himmel lachte. Aber nur wenige Menschen lachten
mit. Viel zu wenige! Ein blauer Himmel kann freilich viele
Menschenherzen fröhlich machen, aber nur dann, wenn die Augen
ihn suchen und anschauen. In dieser Sonntagsfrühe jedoch blickte
noch kein Auge zu ihm hinauf. Die Zeitungsfrau, welche die
Morgenblätter austrug, mochte wohl an ihre Kinder zu Hause
denken und an sonst mancherlei; sie hielt den Blick gesenkt. Der
Milchmann auf seinem Kutscherbock hatte auf sein Pferd zu achten
und an seine Kunden zu denken; der Bäckerjunge pfiff ein Lied
und hatte nur Augen für Hunde und Brotbeutel, und der Schutz¬
mann — der mußte sich auch mehr um die Dinge, die auf der
Erde sind, kümmern, als um die über der Erde; denn Diebe
pflegen auf der Erde zu stehlen und nicht unter dem Himmel.
Die Sonne, die ja jeden Tag die weite Reise um die ganze
Erde machen muß, guckte mit einem Auge schon über die Dächer
der Häuser und Türme hinweg und schien in die Dachfenster
hinein, und als sie noch ein bißchen höher gestiegen war, fiel ihr
Schein in die Straßen und Stubenfenster bis nach der andern Seite
der Stadt, wo die vielen kleinen Lauben in den Gärten standen,
wo die Wiesen und Felder anfingen.
Dort, mitten zwischen den Gärten zog sich ein alter Graben
hin. Der helle Morgensonnenschein fiel gerade darauf und drang
überall durch die Zweige der Sträucher und Büsche, die ihn von
beiden Seiten besetzten und versteckten. An seinen Ufern wuchsen
dicke Grasbüschel, und zwischen welken Blättern aus dem Vor¬
jahre keimten die verschiedensten Blumen hervor, Pflanzen mit
seltsamen Blättern und dicken, unförmlichen Blütenknospen. Das
grünliche Wasser war ganz klar, und man konnte bis auf den
Grund sehen. Und wie merkwürdig sah der aus! Wer lange
hinuntersah, der konnte deutlich die seltsamsten Höhlen und