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96. Hanni Storm.
Wie gut Hanni war, aber auch wie leichtsinnig.
Der kleinen Hanni Storm hatte nie etwas so sehr das junge
Herz gerührt als die Religionsstunden, in denen der Lehrer ihr und
ihren Mitschülerinnen die Bergpredigt Jesu erklärte. Vor allem 5
war ihr der Spruch: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden
Barmherzigkeit erlangen," teuer und unvergeßlich geblieben. Seit
sie ihn in ihrer Seele trug, war es ihr nicht mehr möglich, an
einem Bettler vorbeizugehen, ohne ihm ein Scherflein an Geld, wenn
sie gerade solches besaß, oder einen Teil ihres Frühstücks oder Vesper- 10
brotes oder wenigstens, wenn ihre Taschen ganz leer waren, ein herz¬
liches, teilnehmendes Wort zu schenken, was dem Armen oft noch
tausendmal wohler thut als Geld und Brot. Sah sie ein Mütter¬
lein, das irgend eine Last trug, so sprang sie hinzu und half ihr
dieselbe vom Fleck bringen; ja, ich habe sie einmal gesehen, wie sie 15
einem armen Jungen sein Wägelchen durch den Schnee ziehen half,
in dem er Holz von einem Bauplatz nach Hause fahren sollte, und
das für das schwächliche Kerlchen viel zu schwer beladen war. Die
vorübergehenden Leute lachten, als sie das hübsch gekleidete Kind in
dem schwanbesetzten Samtmäntelchen neben dem abgerissenen, blassen 20
und schwermütigen Jungen an derselben Deichsel ziehen sahen. Dem
lieben Gott aber hat das Bild gewiß gefallen.
Hannis Eltern, die ziemlich wohlhabend waren, schenkten ihrem
Kind gern von Zeit zu Zeit eine kleine Geldsumme mit der Er¬
laubnis, dieselbe ganz nach Gefallen zu verwenden. Sie wußten, 25
daß Hanni alles, was sie besaß, den Armen gab und sich ihre eigenen
kleinen Wünsche versagte, um andern wohlzuthun. Sie fragten des¬
halb die Kleine auch nie, wohin das Geld gekommen sei, da sie nicht
wünschten, daß Hanni von ihren eigenen guten Thaten erzählen und
dadurch eitel und selbstbewußt werden sollte. Höchstens von fern 30
beobachtete Frau Storm ihr Töchterchen zuweilen, wenn sie auf dem
Schulweg in eine Kellerwohnung hinabnickte, wo ein armes Mädchen
wohnte, der sie von Zeit zu Zeit einen Blumenstrauß oder einen
frischen Wecken brachte, oder wenn sie dem blinden Bettler am Wege
ein Geldstück in den Hut warf oder ihre Frühstücksüpfel mit den 35
Kindern der Armenschule teilte.
Daß Frau Storm glücklich über diese liebliche Barmherzigkeit
ihres Kindes war, könnt ihr euch denken. Und doch war sie zu-