Full text: Für Klasse VIII und VII (2tes und 3tes Schuljahr) (Teil 1, [Schülerband])

295 
96. Hanni Storm. 
Wie gut Hanni war, aber auch wie leichtsinnig. 
Der kleinen Hanni Storm hatte nie etwas so sehr das junge 
Herz gerührt als die Religionsstunden, in denen der Lehrer ihr und 
ihren Mitschülerinnen die Bergpredigt Jesu erklärte. Vor allem 5 
war ihr der Spruch: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden 
Barmherzigkeit erlangen," teuer und unvergeßlich geblieben. Seit 
sie ihn in ihrer Seele trug, war es ihr nicht mehr möglich, an 
einem Bettler vorbeizugehen, ohne ihm ein Scherflein an Geld, wenn 
sie gerade solches besaß, oder einen Teil ihres Frühstücks oder Vesper- 10 
brotes oder wenigstens, wenn ihre Taschen ganz leer waren, ein herz¬ 
liches, teilnehmendes Wort zu schenken, was dem Armen oft noch 
tausendmal wohler thut als Geld und Brot. Sah sie ein Mütter¬ 
lein, das irgend eine Last trug, so sprang sie hinzu und half ihr 
dieselbe vom Fleck bringen; ja, ich habe sie einmal gesehen, wie sie 15 
einem armen Jungen sein Wägelchen durch den Schnee ziehen half, 
in dem er Holz von einem Bauplatz nach Hause fahren sollte, und 
das für das schwächliche Kerlchen viel zu schwer beladen war. Die 
vorübergehenden Leute lachten, als sie das hübsch gekleidete Kind in 
dem schwanbesetzten Samtmäntelchen neben dem abgerissenen, blassen 20 
und schwermütigen Jungen an derselben Deichsel ziehen sahen. Dem 
lieben Gott aber hat das Bild gewiß gefallen. 
Hannis Eltern, die ziemlich wohlhabend waren, schenkten ihrem 
Kind gern von Zeit zu Zeit eine kleine Geldsumme mit der Er¬ 
laubnis, dieselbe ganz nach Gefallen zu verwenden. Sie wußten, 25 
daß Hanni alles, was sie besaß, den Armen gab und sich ihre eigenen 
kleinen Wünsche versagte, um andern wohlzuthun. Sie fragten des¬ 
halb die Kleine auch nie, wohin das Geld gekommen sei, da sie nicht 
wünschten, daß Hanni von ihren eigenen guten Thaten erzählen und 
dadurch eitel und selbstbewußt werden sollte. Höchstens von fern 30 
beobachtete Frau Storm ihr Töchterchen zuweilen, wenn sie auf dem 
Schulweg in eine Kellerwohnung hinabnickte, wo ein armes Mädchen 
wohnte, der sie von Zeit zu Zeit einen Blumenstrauß oder einen 
frischen Wecken brachte, oder wenn sie dem blinden Bettler am Wege 
ein Geldstück in den Hut warf oder ihre Frühstücksüpfel mit den 35 
Kindern der Armenschule teilte. 
Daß Frau Storm glücklich über diese liebliche Barmherzigkeit 
ihres Kindes war, könnt ihr euch denken. Und doch war sie zu-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.