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weilen auch tief bekümmert, wenn sie an ihr kleines Mädchen dachte.
Hanni besaß einen sehr bösen Fehler; sie war unbeschreiblich ge¬
dankenlos und vergeßlich. Wie oft geschah es ihr, daß sie eins der
zur Schule nötigen Bücher zu Hause vergaß und dann in der Frei-
ü stunde, statt ausruhen zu dürfen, nach Hause laufen und das Be¬
treffende holen und zur Strafe nach zwölf Uhr noch nachsitzen mußte.
Wie oft ließ sie ihre Puppen, ja ihren Hut, ihr Jäckchen oder ihr
Bilderbuch abends im Garten liegen, wo sie es früh gewöhnlich vom
Tau durchfeuchtet und unbrauchbar wiederfand! Den Schlüssel zu
10 ihrem Schränkchen verlegte sie so oft, daß ihn die Mutter schließlich
abzuziehen verbot; ja das Traurigste war, daß sie, die kleine Barm¬
herzige, ihrem Goldfischchen eines Tages das Futter zu geben ver¬
gaß, so daß das arme schöne Tierchen abends tot auf dem Grunde
des Glases lag. Darüber wollte sich Hanni fast die Augen aus-
18 weinen, aber es half nichts: das blitzende Geschöpfchen, das sich seines
Lebens so sehr gefreut hatte, blieb tot.
„Wie kann sich Gott noch über dein Wohlthun freuen, wenn
du durch deine Unachtsamkeit so viel zerstörst," sagte die Mutter an
jenem Tage traurig.
20 „Ach, Mama, Mama, ich will es nie wieder thun, ich will acht¬
sam und ordentlich werden," schluchzte Hanni, ihr glühendes, thränen¬
feuchtes Gesicht in der Mutter Schoß bergend.
„Ich will es hoffen, Kind," erwiderte diese ernst. „Wenn du
dich aber nicht besserst, so muß ich dich strafen und dir das Geld
25 entziehen, mit dem du den Armen und dadurch dir selbst so viel
Freude machen darfst. Bedenke, wie dankbar du Gott sein mußt,
daß er dir die Mittel giebt, barmherzig zu sein. Ist es nicht das
schönste Glück, geben zu dürfen? Willst du dir dies nicht verdienen,
indem du endlich, endlich aufmerksam und achtsam sein lernst?"
30 „Ich will, ich will. Gewiß, Mütterchen, ich will," sagte das
Kind mit strahlenden Augen.
In der nächsten Zeit war Hanni wirklich so ordentlich, pünkt¬
lich und nachdenklich, daß man sie kaum wiedererkannte.
Aber ganz und für immer war der böse Fehler doch nicht
35 überwunden.
Wie Hanni die alte kranke Stickerin Pflegte.
In dem Hause, das Hannis Eltern bewohnten, lebte, hoch oben
unter dem Dach, in einem sehr kleinen und sehr armseligen Zimmerchen