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eine alle Frau, die kein Kind, keinen Bruder, kurz, keinen Menschen
auf der Welt besaß, der sich um sie kümmerte, und die ihren Lebens¬
unterhalt dadurch verdiente, daß sie feine Seiden- und Perlstickereien ■
für Geschäfte anfertigte, was ihr freilich bei ihrem Alter und den
zitternden Händen nicht allzu schnell von statten ging und ihr nur 5
knapp so viel einbrachte, daß sie leben und die Miete für ihre be¬
scheidene Wohnung bezahlen konnte.
Hanni, welche genau wußte, zu welcher Zeit die Greisin abends
die Treppen hinunterstieg, um ihre Arbeiten fortzutragen oder ihre
kleinen Einkäufe zu machen, stand, wenn sie irgend konnte, wartend 10
im Hausflur, um der Alten ein paar Blüten aus ihrem Gärtchen
oder ein paar süße Früchte zu schenken oder ihr wenigstens mit
treuherzigem Gruß ihr Händchen zu reichen, wofür die Frau immer
dankbar Hannis Blondhaar streichelte und Gottes Segen auf sie
herabwünschte. 15
Eines Abends wartete Hanni aber vergeblich ans ihre Freundin
mit dem silberweißen Greisenhaar. Sie schalt sich, daß sie bei Spiel
und Scherz gewiß die rechte Zeit versäumt habe, und nahm sich vor,
am andern Tage recht pünktlich da zu sein.
Aber auch am andern Tage kam die Alte nicht zur gewohnten 20
Zeit die Treppe herab, und nun fiel es Hanni ein, daß sie am
Ende krank geworden sein könne. Erschrocken über diesen Gedanken,
eilte sie zu ihrer Mutter und bat um die Erlaubnis, in die Dach¬
wohnung hinaufsteigen und ihre Freundin besuchen zu dürfen, welche
sie natürlich sofort erhielt. 25
Aber dreimal mußte sie oben an der alten, verrosteten Klingel
ziehen, ehe die Frau öffnete. Als sie Hanni gewahrte, brach sie in
freudige Thränen aus.
„Ich wußte, daß du mich nicht vergessen könntest, daß du
kommen und nach mir fragen müßtest," sagte sie. „Denke dir, ich 30
liege .schon seit zwei Tagen ganz verlassen, krank und elend auf
meinem Bett; erst jetzt, wo ich es genau wußte, daß du kommen
würdest, zwang ich mich aufzustehen und dir zu öffnen."
„Was ist es denn? Was fehlt Ihnen denn?" fragte Hanni bewegt.
„Ach, Kind, ich weiß es selbst nicht. — Müdigkeit und Schwäche 35
und dabei ein quälender Schmerz im Kopfe — wer kann sagen, was
noch daraus wird."
Von Hanni gestützt, schwankte sie nach diesen Worten wieder in
ihr Stübchen hinein und sank kraftlos ans ihr Lager nieder. Hanni