Contents: Vaterländisches Lesebuch für die mittleren und oberen Klassen evangelischer Volksschulen

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Der Richter besann sich einen Augenblick und sagte dann: „Laßt mir 
das Geld hier und kommt morgen um dieselbe Zeit wieder!" 
Jetzt war die Reihe an Bu-Akas. „Würdiger Kadi," begann er, „ich 
bin aus fernem Lande hierhergekommen, um auf dem hiesigen Markte 
Waaren zu kaufen, Nicht weit von der Stadt bat mich dieser Krüppel, 
ihn mit aus mein Pferd zu nehmen, damit er nicht im Gedränge von 
Maulthieren und Kameelen getreten würde. Als wir aber aus dem Markt 
anlangten, wollte er nicht absteigen, sondern behauptete, das Pferd gehöre 
ihm. Dies ist der unverfälschte Thatbestand; ich beschwöre ihn beim 
Propheten." 
„Gerechter Kadi," sagte nun der Krüppel, „ich kam auf diesem mir 
zugehörenden Pferde hierher, um auf eurem Markte Einkäufe zu machen, 
als ich jenen Mann anscheinend todtmüde am Rande des Weges sitzen sah. 
Ich näherte mich ihm und erkundigte mich, ob ihm irgend ein Unfall zu¬ 
gestoßen wäre. Mir ist nichts zugestoßen, antwortete er, die Ermüdung 
allein hat mich überwältigt, und wenn du mitleidig wärest, würdest bn mich 
bis in die Stadt, in der ich Geschäfte habe, mitnehmen. Aus dem Markt¬ 
platze werde ich alsdann absteigen und Muhamed bitten, daß er dich segnen 
möge. Ich that, wie dieser Mann es wünschte; aber groß war mein 
Erstaunen, als er, ans dem Platze angekommen, mich aufforderte abzu¬ 
steigen, weil das Pferd ihm gehöre. Rach dieser seltsamen Rede habe ich 
ihn zu dir geführt, damit du zwischen uns beiden entscheiden mögest. So 
verhält sich die Sache; ich schwöre es beim Propheten." 
Der Kadi besann sich einen Augenblick und sagte: „Laßt mir das 
Pferd hier und kommt morgen wieder." Das Pferd wurde dem Kadi zu¬ 
gestellt; Bu-Akas und der Krüppel zogen sich ehrerbietig grüßend zurück. 
Am folgenden Tage fanden sich außer den Betheiligten auch viele 
andere Menschen vor dem Richterstuhl eiu, denn die Schwierigkeit der zu 
entscheidenden Fragen zog eine Menge Neugieriger herbei. Der Kadi ries 
zuerst den Gelehrten und den Bauer aus. „Hier ist deine Sklavin," sagte 
er zu dem ersteren; „führe sie nach Hause, sie ist dein." Dann wandte 
er sich an den Gerichtsdiener und sagte, auf den Bauer zeigend: Zählet 
diesem Manne fünfzig Stockschläge auf!" Der Gelehrte führte die Sklavin 
fort, der Bauer erhielt fünfzig Stockschläge, und die Sache war erledigt. 
Jetzt kam die Reihe an den zweiten Fall. „Hier ist dein Geld," sagte 
der Kadi zu dem Gärtner. „Du hast es aus deiner Börse genommen; 
es hat niemals jenem Manne gehört." Dann sich zu den Gerichtsdienern 
wendend, zeigte er auf den Ölhändler und sagte: „Zählet diesem Manne 
fünfzig Stockschläge auf!" Der Gärtner entfernte sich mit seinem Gelde, 
und die Diener zählten dem Ölhündler fünfzig Hiebe auf. 
Die dritte Streitsache kam nun zur Verhandlung. Bu-Akas und der 
Kriippel näherten sich. „Würdest du dein Pferd inmitten zwanzig anderer 
wieder erkennen?" fragte der Richter den Scheich. 
„Gewiß!" sagte dieser. 
„Und du?" fuhr der Richter fort, indem er sich an den Krüppel 
wandte. 
„Ohne Zweifel!" lautete die Antwort. 
„Komm mit mir," sprach der Richter zu Bu-Akas, und ging mit ihm 
in einen Stall, in welchem dieser sein Pferd unter vielen anderen sogleich 
heraus fand.
	        
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