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5. Das Kind besuchte täglich das Taubenhaus, freute sich, wie
die jungen Täubchen größer und größer wurden, und wie ihnen die
Federn so rasch wuchsen. Es möchte die lieben Tierchen gern
streicheln, der Vater aber wehrte es ihm. Er sagte: „Wenn du sie
streichelst, so bleiben die Alten vom Neste weg, bringen ihnen kein
Futter mehr, und sie müssen verderben; oder die Jungen hüpfen zu
früh aus dem Neste, können aber noch nicht selber ihr Futter
suchen und kommen elendiglich um. Es ist mit den jungen Tauben
wie mit vielen andern hübschen Dingen in der Welt: du kannst sie
besehen, dich darüber freuen, aber du darfst sie nicht angreifen!"
Hermann Wagner.
91. Die Kartoffeln.
1. Die Kartoffel stammt aus Amerika, vor ungefähr dreihundert
Jahren schickte der Seefahrer Franz Drake einem feiner freunde in
England Kartoffeln aus Amerika zur Aussaat und schrieb dazu, die
Frucht dieses Gewächses sei so nahrhaft, daß er ihren Anbau für
höchst nützlich halte. Aber fast hätte sie dieser Freund aus seinem
Garten wieder herausreißen und wegwerfen lassen. Denn er dachte,
Franz Drake habe mit dem Worte Frucht die Samenknollen gemeint,
die oben am Kraute hängen. Da es nun herbst war und die Samen¬
knollen gelb waren, lud er eine Menge vornehmer Herren zu einem
Gastmahle ein, wobei es hoch herging. Am Ende kam auch eine zu¬
gedeckte Schüssel, und der Hausherr stand auf und hielt eine schöne
Rede an die Gäste. Er sagte, er habe die Ehre, ihnen hier eine
Frucht vorzusetzen, wozu er den Samen von seinem Freunde, dem be¬
rühmten Drake, erhalten hätte. Dieser habe ihm versichert, daß ihr
Anbau für England höchst wichtig werden könne. Die Herren kosteten
nun die Frucht, die in Butter gebacken und mit Zucker und Zimt be¬
streut war; aber sie schmeckte abscheulich, und es war nur schade um
den Zucker. Darauf urteilten sie alle, die Frucht könne wohl für
Amerika gut sein, aber in England werde sie nicht reif. Da ließ denn
der Gutsherr einige Zeit nachher die Kartoffelstauden herausreißen und
wollte sie wegwerfen lassen.
2. Aber eines Morgens im herbste ging er durch seinen Garten
und sah in der Asche eines Feuers, das der Gärtner angemacht hatte,
schwarze, runde Knollen liegen. Er zertrat eine, und siehe, die duftete
gar lieblich. Lr fragte den Gärtner, was das für Knollen wären;
und der sagte ihm, daß sie unten an der Wurzel des fremden amerika¬
nischen Gewächses gehangen hätten. Nun ging dem Herrn erst das
rechte Licht auf. Er ließ die Knollen sammeln und zubereiten und