Full text: Lesebuch für Mädchenfortbildungsschulen und ähnliche Anstalten

Strebe vorwärts! 
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du mir nicht sogleich den Habwas ins Haus schicken?" „Wird sich schwer machen 
lassen. Soviel ich weiß, kommt Habwas nie in ein Haus, wo nicht Sparwas 
vorher gehaust hat." „Dann ist es überhaupt nichts damit. — Ich glaube jetzt, 
du hast mir ein Märchen aufgebunden mit deinen Wichtelmännchen. — Behalte 
sie beide! Ich werde mir schon anders helfen." „Geh doch nicht gleich! Bleib 
doch! Er geht — er ist schon fort. — Ja, wem nicht zu raten ist, dem ist 
nicht zu helfen." Trojan. 
80. Trrue Ärbrit wird belohnt. 
i. 
1. Unsere Tante Scholli, ich sehe sie noch vor mir, lang, hager, mit immer 
gerötetem Gesicht und wirrem Haar, das, wie sie es auch kämmen und bürsten 
mochte, nicht zu bändigen war. Ihre Augen waren groß und grau itnb scharf¬ 
blickend, sie konnte einem damit bis aus den Grund der Seele schauen. Sie 
hatte körperlich nichts Hübsches, aber auch in ihrem Wesen nichts Herzliches 
an sich, und doch war sie eine seltene, prächtige Frau, ein starker Charakter — sie 
hat mich und meine fünf Brüder groß gezogen, und ihr allein, ihrer Energie, ihrer 
Willensstärke, ihrer Arbeitskraft verdanken wir's, daß wir alle sechs tüchtige Männer, 
nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft geworden sind. Sie war die ältere 
Schwester meines Vaters und dem vor Jahren aus Polen eingewanderten Ge¬ 
treidehändler Sebastian Corolwindschitzky vermählt. 
2. Meine Mutter war seit vier Jahren tot. Tante Scholli nahin sich unserer 
ohne Bedenken mütterlich an, und so lebten wir schlecht und recht in dem kleinen, 
schlesischen Provinzstädtchen Freiwaldan, in einem dem Vater und der Tante 
gehörigen Häuschen. 
Mir ist von dieser Zeit nicht viel in der Erinnerung geblieben; denn abge¬ 
sehen davon, daß ein zehnjähriger Bub überhaupt nicht viel denkt und das Nahe¬ 
liegendste ihm in dieser Zeit von wenig Wichtigkeit erscheint, hatte ich als der 
älteste der Buben sehr viel häusliche Geschäfte zu verrichten, war Stubenmädchen, 
Koch- und Kindsmagd in einer Pekfon. Da aber Tante Scholli streng daraus 
achtete, daß ich fleißig die Schule besuchte und die Hausaufgaben peinlich genau 
machte, war ich oft mit Arbeit überbürdet und hatte nicht Zeit, meinen Gedanken 
nachzuhängen, bis auf einmal ein ganz merkwürdiges Ereignis wie eine Bombe 
ins Haus hereinplatzte und mich aus meiner Gleichgültigkeit aufrüttelte. Eines 
Tages war Onkel Sebastian fort und verschwunden und kurze Zeit darauf der 
Vater ebenfalls; alles Nachforschen war vergebens, keine Spur war von beiden zu 
entdecken. 
3. Es grassierte zur damaligen Zeit das Auswanderungsfieber; wer mit 
feinem Lose unzufrieden war, wer den Lockungen von „Drüben" ein williges Ohr 
lieh, die Versprechungen für bare Münze hielt und an die goldnen Berge glaubte, 
der wanderte nach Amerika. Das Gros der Auswandrer ging natürlich elend zu 
gründe — auch Vater und Onkel traf das traurige Schicksal, wie meine Nach¬ 
forschungen, die ich nach Jahren anstellte, ergaben. Tante Scholli war an¬ 
fänglich ganz ruhig und gelassen, erst als die Gewißheit hatte, daß Mann 
und Bruder sie mitsamt den sechs Buben schmählich im Stich gelassen, brach die 
Leidenschaft in ihr los. Sie weinte nicht und klagte nicht, allen neugie¬ 
rigen Nachbarn schlug sie die Tür vor der Nase zu und sprach über die Affäre 
überhaupt nur das Notwendigste, litt aber von keinem, wer es auch sein mochte, 
ein Wort der Schmähung über die beiden pflichtvergessenen Männer. Aber nach 
vollbrachtem. Tagewerk rannte sie wie sinnlos im Hofe herum; ihr Gesicht wurde 
ivwwr röter, ihr Haar immer wirrer; sie gestikulierte heftig mit ihren langen 
und sprach unaufhörlich in gedämpftem Ton mit sich selbst, bis sie schließlich 
nach Stunden ganz erschöpft znsainmenbrach. Wir Kinder fürchteten uns dann vor
	        
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