Full text: Lesebuch für Mädchenfortbildungsschulen und ähnliche Anstalten

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Strebe vorwärts! 
2. Da stand nun Tante Scholli Tag für Tag bei ihrer Arbeit. Ich sehe 
sie noch vor mir in dem dunkelblauen Tuch, das sie turbanartig um den Kopf 
geschlungen hatte, um ihr immer krauses Haar darunter zu bergen, der weißen 
breiten Küchenschürze und den aufgestreiften Ärmeln, die ihre sehnigen Arme frei 
ließen. Die Zimmertür stand immer offen, damit sie uns bequem übersehen konnte; 
denn sie führte ein gar strenges Kommando und hatte uns an unbedingten Ge¬ 
horsam gewöhnt. Früh ausstehen hieß es und kräftig zufassen, die Betten lüften, 
den Boden fegen, den Staub wischen; war dies geschehen, mußten wir nochmals, 
nachdem wir uns erst tüchtig gewaschen, gekämmt und gebürstet hatten, die Schul¬ 
aufgaben _ durchsehen; dann erst gab's Frühstück. Danach nahm Tante Scholli 
ihren großen Henkelkorb und begleitete uns bis vors Tor des Schulhauses, das 
in der Nähe des Marktplatzes war, wo sie ihre Einkäufe zu machen Pflegte. 
3. In der Küche neben der Eingangstür hing der große Torschlüssel an der 
Wand, und von uns vier Älteren hatte abwechselnd immer einer seinen „Tag" für 
die Torsperre, der zweite den Tag zum Tischdecken, der dritte zum Geschirrspülen 
und der vierte zum Stiefelputzen. Da wurde gar nichts mehr geredet, jeder wußte, 
was er zu tun hatte, und wußte er es einmal nicht, so kam ein strenger Blick aus 
den großen, grauen Augen sofort seiner Erinnerung zu Hilfe. Und 'flink mußten 
wir alles besorgen, damit wir nur ja wieder rasch zum Lernen kämen. 
Mittags gab's einfache, derbe, aber gut gekochte Kost; wir hatten dabei alle 
sechs dicke, rote Backen und waren trotz Tankes strengem Regiment immer ver¬ 
gnügt. Nach dem Abendbrot mußte einer vorlesen aus Büchern, die wir der 
Schülerbibliothek entlehnten; Sonntagsnachmittags aber dursten wir spielen nach 
Herzenslust, und Tante Scholli saß dann vor einem Berg Flickarbeit, den völlig 
abzutragen ihr niemals gelang. 
4. Der Herr Rat besuchte uns oft. Er hatte Wort gehalten und seinen Ein¬ 
fluß geltend gemacht; ich war vom Schulgeld befreit und bekam sämtliche Bücher 
und alle Hefte umsonst geliefert. Er hatte aber auch Tante Scholli eine große 
Anzahl Adressen gegeben von Delikatessenhändlern, Kaffeehäusern und Konditoren; 
bei ihnen sollte sie anklopfen behufs Absatzes ihrer Ware. Auch dabei hatte sie 
Glück; sie zeigte überall die Preismedaille der Kochkunstausstellung vor, man 
kostete ihre Törtchen, fand sie gut und schmackhaft und bestellte vorerst zur Probe, 
dann immer mehr und mehr, so daß sie bald den Aufträgen nicht gerecht werden 
konnte und Hilfsarbeiter nehmen mußte. Der Hausherr war mit Tante Scholli 
sehr zufrieden; er bereute es nie, ihr die Portierwohnung überlassen zu haben; 
denn alles, was durchs Tor aus- und einging, wurde von'ihr streng kontrolliert; 
nichts entging ihrer Beobachtung. Dann,, gab sie knappen, kurzen Bescheid, so daß 
er immer wußte, woran er war, und die Überzeugung hatte, sein Haus sei in den 
besten Händen. Er kümmerte sich auch um uns Buben, überwachte rmser Lernen, 
und seine Frau lud uns öfter ein, was immer einen Festtag für uns bedeutete. 
5. Nach einigen Jahren erwies sich die Küche als zu klein für Tantes Zwecke; 
die große Stube mußte dazu genommen und das Personal verdoppelt werden. Wir 
bezogen eine Wohnung von drei Zimmern mit bessern Möbeln im Hinterhause, 
da wir doch vernünftiger geworden und keiner so strengen Aufsicht mehr bedurften. 
Auch des Scheuerns und Geschirrspülens wurden wir überhoben; denn eine tägliche 
Aufwartefrau besorgte dies für uns, und als Torwart wurde ein einäugiger, 
armer Bursche angestellt— sonst blieb alles beim alten. Unnötige Ausgaben 
wurden nicht gemacht; dafür gab ein sorgsam verwahrtes Sparkassenbuch Zeugnis 
von dem Blühen der Bäckerei. Tante Scholli wurden glänzend bezahlte Stellen 
von Geschäftsinhabern angeboten, aber sie schlug alles aus, weil sie uns dahin 
nicht hätte mitnehmen können, und von den Buben sich trennen war für sie gleich¬ 
bedeutend mit eingekerkert werden oder sterben. Sie liebte uns, gab ihr alles für 
uns hin, nur zeigte sie uns das nie; wir erkannten es erst, als wir älter geworden 
waren und alles mit dem Verstände maßen. 
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