Full text: Lesebuch für Mädchenfortbildungsschulen und ähnliche Anstalten

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Deutsches Land und Volk. 
IY. Deutsches Land und Volk. 
164. Straßen und Verkehr zur Zeit der Großväter. 
1. Wenn wir heute von „Verkehr" reden, denken wir zunächst gar nicht an 
Landstraßen, Feldwege und Fußsteige, sondern an Dampferlinien und Eisenbahnen 
mit ihren _ ungeheuren Personen- und Güterzügen. Der große Verkehr hat den 
kleinen verschlungen und sich selber seit Jahrzehnten wieder wunderbar ins kleine 
verzweigt. 
Welch ein Wechsel, der seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts in dem 
Straßenbau eingetreten! Wie ward es angestaunt, als Napoleon seine riesigen 
Bauten gradlinig von Stadt zu Stadt über Berge und Flüsse zu führen begann, 
um die eroberten Lande mit dem Mittelpunkte seines Reiches zu verbinden! Welch 
ein Anblick, als lange Pappelreihen, in Reihen aufmarschiert, die Wege begleiteten 
und an Stelle der alten Linden traten! Alles folgte dem gegeben Beispiele; der 
begüterte Adel gab seinem Rittersitze einen neuen Schmuck, seiner herrschaftlichen 
Würde ein neues Sinnbild und schützte seine Alleen als ein adliges Wahrzeichen 
mit Nachdruck. Soll doch der Markgraf Friedrich Wilhelm von Schwedt, dessen 
ausgedehnte, zahlreiche Anlagen einen Ruf gewannen, jeden Schulzen, in dessen 
Bezirk ein Baum zerstört worden oder auch nur ausgegangen war, eigenhändig 
mit dem Stocke gezüchtigt haben! Selbst die großartigen Alleen bei dem Bayreuth- 
schen Schloß und bei Kloster Himmelkron wurden niedergeschlagen, und statt der 
altfränkischen Linden und Kastanien pflegte man Pappel neben Pappel und zer¬ 
störte dem neuen Geschmack zuliebe Hunderte von Landschaftsbildern. Alles schien 
sich zu ändern, als von Mitteldeutschland her, wo die kleinen Fürsten sich in der 
Einführung des neuen Kunststraßensystems hervortaten, nach und nach die Stein¬ 
wege über Deutschland legten. Man pries es als eine Errungenschaft ohnegleichen, 
als sich in Sachsen, Kurtrier und andern Ländern an denselben Meilensteine erhoben; 
man machte Gedichte darüber und rühmte vor allem die daran angebrachten Bänke, 
woran sich nicht nur vernünftige, sondern auch empfindsame Reisende erfreuen 
könnten. Nur die Frachtfuhrleute von altem Korn gaben ihren Ärger laut kund, 
weil nunmehr die Feinheiten des Gewerbes, die echten Lehr- und Meistergeheim¬ 
nisse überflüssig geworden seien; auf einer ebenen Chaussee könne jeder Schneider- 
sein Fuhrwerk lenken, auf einer schlechten, buckligen Straße voller Löcher und 
Pfützen zu fahren, sei noch eine Kunst gewesen. Und das war nicht zu viel gesagt. 
Ein vornehmer Reisender zerbrach auf einer Reise durch Sachsen nicht weniger als 
25 Wagenräder. Ein anderer nahm 12 Postpferde vor jeden Wagen und 12 Bauern 
als Begleiter zum Stützen und nötigenfalls zum Herauswinden des Wagens, so 
oft er in eines der zahlreichen Löcher sank, und doch legte er in sechs Stunden 
nur eine Meile Weges zurück. 
2. Trotz dieser Übelstände ging es namentlich in den großen Ländermassen 
des Nordens nur langsam mit der Herstellung der neuen Straßen vorwärts. 
Preußen erhielt 1787 die ersten Chausseen, und bloß für die Hauptlinien waren 
sie im ersten Viertel des Jahrhunderts zur Durchführung gelangt. Hier galt jeder 
Neubau als eine Art Wunderwerk, und Hunderte strömten zusammen, wo Hügel 
abgetragen oder Täler durch Erddämme überbrückt wurden. Im allgemeinen über¬ 
wogen immer noch jene alten, krummen, breiten, oft unwegsamen Landstraßen, durch 
die der Wagen mit Mühe von drei oder vier Pferden geschleppt ward. Es gab 
darauf nur zu oft Stellen, die wegen der sich dort wiederholenden Unfälle einen 
üblen Ruf hatten; man nahte sich ihnen mit Angst und Beben und atmete auf, 
wenn man glücklich vorüber war. Am schlimmsten sah es in den weiten Sand¬ 
gegenden und Heiden aus. Hier waren die Wege mit Pfählen bezeichnet, die bei 
Schneefällen als Wegweiser dienten und um zur Nachtzeit möglichen Verirrungen
	        
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