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Aus der vaterländischen Geschichte.
Papa die Hand küssen und Mama um den Hals fallen, so stürmisch, als wäre
eine lange Trennung gewesen, die ihren Traum erzählen, ihre Unterrichtssorgen
beichten, so ernst, als handle es sich um Regierungsfragen, die sich über ein Stück
Kuchen vom Elterntisch freuen können, so herzlich, als wäre es das kostbarste
Geschenk.
Doch die Fenster eines Familienzimmers sind keine Schaufenster, sie sind
wohl zum Heraus-, aber nicht zum Hineinsehen. Nur so viel will ich sagen: Die¬
jenigen irren sich gründlich, die da meinen, es herrsche in unserm Kaiserhause steife
Form und kalte Etikette, es gehe der Verkehr nicht von Herz zu Herz, sondern durch
Kammerherrn und Hofdamen, von eigentlichem Familienleben könne bei Hofe keine
Rede sein. Bewahre! Die Zeiten sind vorüber, wo die Oberhofmeisterin Voß einen
ungeheuerlichen Schreck bekam, als sie hörte, daß der Kronprinz, der nachmalige
König Friedrich Wilhelm III., seine holde Gemahlin mit „Du" anredete, und ihn
ein andermal bedeutete, daß es den Regeln des Hauszeremoniells doch nicht ent¬
spräche, wenn der Kronprinz die Frau Kronprinzeß unangemeldet aufsuche. Das
sind vergangene Zeiten. Heute ist der Verkehr zwischen Kaiser, Kaiserin und
zwischen den kaiserlichen Eltern und Kindern ein so herzlicher, ein so inniger, in so
echt menschlich natürlichen Formen sich vollziehender, wie in jedem rechten, deutschen,
gemütvollen, innerlich glücklichen Familienkreis.
Es können natürlich nur wenige dies stille, nach innen gekehrte Leben unseres
Königshauses schauen, den draußen Stehenden wird immer mehr die äußerliche,
repräsentative Seite entgegentreten, aber das Kaiserpaar will nicht, daß das Volk
für jenes Familienleben bloß auf einzelne Anekdoten, wahre oder unwahre, be¬
schränkt sein soll, vielmehr ist es bemüht, unser Volk zu Augen- und Ohrenzeugen
seines Familienglückes zu machen. Wenn der Kaiser am 7. September 1890 im
Strandhotel zu Glücksburg vor der Provinz Schleswig-Holstein öffentlich erklärt:
„Das Band, welches Mich mit dieser Provinz verbindet und dieselbe vor allen
andern Provinzen Meines Reiches an Mich kettet, das ist der Edelstein, der an
Meiner Seite glänzt, die Kaiserin. Dem hiesigen Lande entsprossen, das Sinnbild
sämtlicher Tugenden einer germanischen Fürstin, danke Ich es ihr, wenn ich im
Stande bin, die schweren Pflichten Meines Berufes mit dem freudigen Geiste zu
führen und ihnen obzuliegen, wie Ich es vermag" — wenn er ein andermal offen
ausspricht, „er liebe das Familienleben über alles, sei nie glücklicher, als wenn er
wie ein braver Berliner Bürgersmann ruhig mit seiner Frau speisen und ihr ein
Kapitel aus einem Buche vorlesen könne" — wenn fast alle Familienbilder unseres
Herrscherhauses bereitwilligst der Veröffentlichung überlassen werden, um bis in die
fernste Hütte das Königspaar, umgeben von seinem Siebengestirn, zu veranschau¬
lichen — wenn unsere Kaiserfamilie sich keineswegs menschenscheu abschließt, viel¬
mehr bei jeder Gelegenheit frei und ungezwungen mitten ins Leben des Volkes
hineintritt — dann, meine ich, muß auch in dieses ganze Volk etwas hineinwehen
von der frischen, herzhaften Luft unseres Kaiserheims, etwas hineinleuchten von dem
Glanz seines still verborgenen Glückes.
3. Doch die halbe stunde am Frühstückstisch ist vorüber; die älteren Prinzen
sind schon davongeeilt, um pünktlich 8 Uhr ihre Studien in Schloß Bellevue zu
beginnen. Nunmehr trennt sich das Herrscherpaar, die Kaiserin begleitet den jüngsten
Prinzen und das Prinzeßchen zur Kinderstube, den Kaiser ruft seine große, ernste
Pflicht.
Wir alle kennen historische Stätten, an denen einem das Herz unwillkürlich
lauter schlügt — hier im Arbeitszimmer unseres Kaisers doch besonders, wo ge¬
waltige Vergangenheit und bedeutungsvolle Gegenwart sich die Hand reichen, wo
man es fühlt: hier ist die geheime Werkstatt der schwerwiegendsten Entscheidungen,
der Mittelpunkt, von dem die Drähte ausgehen und die elektrischen Funken die
Welt durchfliegen.
Das zweifenstrige durchaus nicht umfangreiche Arbeitszimmer des Kaisers
macht einen ernsten, feierlichen Eindruck. Die graugrünen Paneele, die dunkel¬
braunen Ledertapeten, die dunkelgriinen Fenstervorhünge, niederländische Gemälde,