Full text: Deutsches Lesebuch für die lateinische Schule und die beiden unteren Kurse des Realgymnasiums

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Und schweigend umarmt ihn der treue 
Freund 
Und liefert sich aus dem Tyrannen. 
Der andere ziehet von dannen. 
Und ehe das dritte Morgenrot scheint, 
Hat er schnell mit dem Gatten die 
Schwester vereint, 
Eilt heim mit sorgender Seele, 
Damit er die Frist nicht verfehle. 
Da gießt unendlicher Regen herab, 
Von den Bergen stürzen die Quellen, 
Und die Bäche, die Ströme schwellen; 
Und er kommt ans Ufer mit wandern— 
dem? Stab, 
Da reißet die Brücke der Strudel hinab, 
Und donnernd sprengen die Wogen 
Des Gewölbes krachenden Bogen. 
Und trostlos irrt er an Ufers Rand; 
Wie weit er auch spähet und blicket 
Und die Stimme, die rufende, schicket, 
Da stößet kein Nachen vom sichern Strand, 
Der ihn setze? an das gewünschte Land; 
Kein Schiffer lenket die Fähre, 
Und der wilde Strom wird zum Meere. 
Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht, 
Die Hände zum Zeus erhoben: 
„O hemme des Stromes Toben! 
Es eilen die Stunden; im Mittag steht 
Die Sonne, und wenn sie niedergeht 
Und ich kann die Stadt nicht erreichen, 
So muß der Freund mir erbleichen!“ 
Doch wachsend erneut sich des Stromes 
Wut, 
Und Welle auf Welle zerrinnet, 
Und Stunde auf Stunde entrinnet — 
Da treibt ihn die Angst, da faßt er sich Mut 
Und wirft sich hinein in die brausende Flut 
Und teilt mit gewaltigen Armen 
Den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.? 
Und gewinnt das Ufer und eilet fort 
Und danket dem rettenden Gotte; 
Da stürzet die raubende Rotte 
Hervor aus des Waldes nächtlichem Ort, 
Den Pfad ihm sperrend, und schnaubet 
Mord? 
Und hemmet des Wanderers Eile 
Mit drohend geschwungener Keule. 
„Was wollt ihr?“ ruft er vor Schrecken 
bleich, 
„Ich habe nichts als mein Leben, 
Das muß ich dem Könige geben!“ 
Und entreißt die Keule dem nächsten gleich: 
„Um des Freundes willen erbarmet 
euch 146 
Und drei mit gewaltigen Streichen 
Erlegt er, die andern entweichen. 
Und die Sonne versendet glühenden 
Brand, 
Und von der unendlichen Mühe 
Ermattet sinken die Knie: 
„O hast du mich gnädig aus Räubershand, 
Aus dem Strom mich gerettet ans heilige 
Land 
Und soll hier verschmachtend verderben, 
Und der Freund mir, der liebende, sterben!“ 
Und horch, da sprudelt es silberhell 
Ganz nahe wie rieselndes Rauschen!s 
Und stille hält er, zu lauschen; 
Und sieh, aus dem Felsen geschwätzig schnell 
Springt murmelnd hervor ein lebendiger 
Quell! 
Und freudig bückt er sich nieder 
Und erfrischet die brennenden Glieder. 
Und die Sonneblickt durch der Zweige Grün 
Und malt auf den glänzenden Matten 
Der Bäume gigantischen Schatten; 
Und zwei Wanderer sieht er die Straße 
ziehn, 
F 
1ühnlich sch windelnder Raund ꝛc. c. S. Gr. F 122, 5. Warum 
der Konjunktiv? Zeus konnte ohne Wunder den Strom nicht hemmen, aber 
er stärkte des Möros Kraft; das sehen wir auch in Strophe 11.“ Kehrein. 
Ahnlich im Lateinischen sĩtire sanguinem, anhelare seelus. » Nun— 
mehr wird ein Gedanke (welcher?) verschwiegen. ꝰ Vgl. p. 2961!
	        
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