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Mensch?“ „Nein, das will erst einer werden.“ Endlich kam der Jäger,
die Doppelflinte auf dem Rücken und den hHirschfänger an der Seite.
Sprach der Fuchs zum Wolfe: „Siehst du, dort kommt ein Mensch; auf den
mußt du losgehen; ich aber will mich fort in meine höhle machen!“
Der Wolf ging nun auf den Menschen los. Der Jäger, als er ihn
erblickte, sprach: „Es ist schade, daß ich keine Kugel geladen habe,“
legte an und schoß dem Wolfe das Schrot ins Gesicht. Der Wolf verzog
das Gesicht gewaltig; doch ließ er sich nicht schrecken und ging vorwärts;
da gab ihm der Jäger die zweite Ladung. Der Wolf verbiß den Schmerz
und rückte dem Jäger doch zu Leibe. Da zog dieser seinen Hirschfänger
und gab ihm links und rechts ein paar hiebe, daß er blutend und heulend
zu dem Fuchs zurücklief.
„Nun, Bruder Wolf,“ sprach der Fuchs, „wie bist du mit dem Men—
schen fertig geworden?“ „EAch,“ antwortete der Wolf, „so habe ich
mir die Stärke des Menschen nicht vorgestellt. Erst nahm er einen Stock
von der Schulter und blies hinein; da flog mir etwas ins Gesicht, das
hat mich ganz entsetzlich gekitzelt. Danach pustete er noch einmal in den
Stock; da flog mir's um die Nase wie Blitz und hagelwetter, und wie ich
ganz nahe kam, da zog er eine blanke RKippe aus dem Leibe; damit hat
er so auf mich losgeschlagen, daß ich beinahe tot wäre liegen geblieben.“
„Siehst du,“ sprach der Fuchs, „was du für ein Prahlhans bist!“
Brüder Grimm.
130. Der alte Löwe.
Ein alter Löwe, der von jeher sehr grausam gewesen war, lag kraft—
los vor seiner Höhle und erwartete den Tod. Die Tiere, die sonst in
Schrecken gerieten, wenn sie ihn sahen, bedauerten ihn nicht; denn wer
betrübt sich wohl über den Tod eines Friedensstörers, vor dem man nie
ruhig und sicher sein kann? Sie freuten sich vielmehr, daß sie nun bald
ihn los sein würden. Einige von ihnen, die noch immer das Unrecht
schmerzte, das er ihnen ehedem angetan hatte, wollten nun ihren haß
an ihm auslassen. Der arglistige Fuchs kränkte ihn mit beißenden Keden;
der Wolf rief ihm die ärgsten Schimpfworte zu; der Ochs stieß ihn
mit seinen hörnern; das wilde Schwein verwundete ihn mit seinen hauern,
und selbst der träge Esel gab ihm einen Schlag mit seinem hufe.
Das edle Pferd allein stand dabei und tat ihm nichts, obgleich der
Löwe seine Mutter zerrissen hatte. „Willst du nicht,“ fragte der Esel,
„dem Löwen auch eins hinter die Ohren geben?“ Das Pferd antwortete
ernsthaft: „Ich halte es für niederträchtig, mich an einem Feinde zu
rächen, der mir nicht mehr schaden kann!“ Karl Simrock.