57
2. Der Gewaltige, wild und unbändig zuvor,
Schaut fromm und verständig zur Herrin empor;
Die Jungfrau, zart und wonnereich,
Liebstreichelt ihn sanft und weinet zugleich:
3. „Wir waren in Tagen, die nicht mehr sind,
Gar treue Gespielen, wie Kind und Kind,
Und hatten uns lieb und hatten uns gern;
Die Tage der Kindheit, sie liegen uns fern.
4. Du schütteltest machtvoll, eh’ wir’s geglaubt,
Dein mähnen-umwogtes, königlich Haupt;
Ich wuchs heran, Du siehst es, ich bin
Das Kind nicht mehr mit kindischem Sinn.
5. 0, wär’ ich das Kind noch und bliebe bei Dir,
Mein starkes, getreues, mein redliches Tier!
Ich aber muss folgen, sie thaten’s mir an,
Hinaus in die Fremde dem fremden Mann.
6. Es fiel ihm ein, dass schön ich sei,
Ich wurde gefreiet, es ist nun vorbei; —
Der Kranz im Haare, mein guter Gesell,
Und nicht vor Thränen die Blicke mehr hell.
7. Verstehst Du mich ganz? Schau'st grimmig dazu;
Ich bin ja gefasst, sei ruhig auch Du!
Dort seli’ ich ihn kommen, dem folgen ich muss,
So geh’ ich denn, Freund, Dir den letzten Kuss.“
8. Und wie ihn die Lippe des Mädchens berührt,
Da hat man den Zwinger erzittern gespürt;
Und wie er am Gitter den Jüngling erschaut,
Erfasst Entsetzen die bangende Braut.
9. Er stellt an die Thür sich des Zwingers zur Wacht,
Er schwinget den Schweif, er brüllet mit Macht;
Sie, flehend, gebietend und drohend, begehrt
Hinaus; er im Zorn den Ausgang wehrt.
10. Und draussen erhebt sich verworren Geschrei.
Der Jüngling ruft: „Bringt Waffen herbei!
Ich schiess’ ihn nieder, ich treff ihn gut!“
Aufbrüllt der Gereizte, schäumend vor Wut.
11. Die Unselige wagt’s, sich der Thüre zu nah'n,
Da fällt er verwandelt die Herrin an;
Die schöne Gestalt, ein grässlicher Raub,
Liegt blutig, zerrissen, entstellt in dem Staub.
12. Und wie er vergossen das teure Blut,
Er legt sich zur Leiche mit finsterem Mut,
Er liegt so versunken in Trauer und Schmerz,
Bis tötlich die Kugel ihn trifft in das Herz.