Full text: Deutsches Lesebuch für die weibliche Jugend

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ernste Frau. Der Vater will seinen Sohn im roten Kleid des Juriste 
sehen, während sich im Kinde unaufhaltsam der Drang nach Mus 
kundgiebt. Im siebenten Jahre spielt der Knabe schon zur Ven— 
wunderung aller meisterlich die Orgel; in seinem zwölften treffen wi 
ihn zu Berlin, wo er am Hof Proben seiner Meisterschaft abgiebt und 
die anwesenden Italiener ob seiner Kunst mit Neid erfüllt. Nach den 
ersten Auftreten erhält er die Erlaubnis zum Unterricht in der Musi 
aber auch das juristische Studium wird nach des Vaters Tod aus & 
horsam vollendet. Dann eilt er nach Hamburg, setzt sich unter da 
Orchester, „als ob er keine fünf zählen könne“, tritt dann plötzlich mi 
einer Oper hervor, schreibt eine verfehlte Passionsmusik und eilt, mild 
des Neides und der armseligen Zustände, nach Italien. Dort mit Jube 
begrüßt, wandelt er unter Großen als unter seinesgleichen, der Protestaut 
unter Papst und Kardinälen, schreibt inmitten rauschender Feste sei 
Oratorium: „Der Triumph der Zeit und des Rais“ — den feiel⸗ 
lichsten Protest gegen das Treiben rings um ihn her. Nachdem er 9 
zeigt, was er kann, setzt er sich zu den Füßen Alessandro Scarlatti⸗ 
um zu lernen, und mit dem Segen des Südens: der Reife und den 
Maß, dem Geheimnis der Form, verläßt er Italien, eilt über die Apel 
küßt seine alte Mutter und geht, dem angenommenen Rufe folgen 
nach Hannover. Von da nach England zum Besuch, um dies dar 
als seine wahre Heimat, als den Boden zu erkennen, der Raum fül 
ihn habe. 
In stiller Zurückgezogenheit seine Anthems schreibend, tritt er fünf 
unddreißig Jahr alt vor das Volk, erfaßt das Steuerruder musikalisch 
Bewegung, um es sich so leichten Kaufs nicht mehr entwinden zu lassen 
Neun Jahre musikalischer Alleinherrschaft bezeichnen jene glanzvoll⸗ 
aber gefährliche Zeit. 
Eine düstere Wolke, die sich langsam zusammengezogen, entlädt 
sich über seinem Haupte. Der gereizte Ehrgeiz der Großen und det 
gekränkte Nationalstolz des Englaänders gegen den Fremdling, ein Hel 
von Intriguen stürmt auf den Ehrgeizigen ein. Verlassen von seinen 
Freunden, von unwürdigen Feinden zu Boden geworfen, seine Kräfl 
im übermäßigen Kampf verzehrt, seines Vermögens beraubt, von 
Schlage gelähmt, geht er mit gebrochener Kraft, verdüsterten Geiste⸗ 
nach Aachen. s 
Aber aus dem Bade steigt ein verjüngter Mann, dem sein Fa 
zum Aufstehen geworden. In nie geahnter Kraft erhebt sich der Ries⸗ 
um nicht mehr dem Götzen der Zeit, aber dem lebendigen Gott zu 
dienen. Mit seinen Oratorien hat er die Sprache gefunden, die 
reden soll; der Neid schweigt, gefeiert von allen, steht er wieder i 
Haymarket, seinem alten Theater; und auf der Bühne, über deren 
Bretter einst abgeschmackte Helden gingen, braust der Gesang vom
	        
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